Die Auflösung.

Die Großmutter hatte in einem kleinen silbernen Gefäß Platz, das an eine Thermosflasche erinnerte. Daneben stand ein Mann mit einem ernsthaften Gesicht. Seine Stimme war laut und sonor. Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden. Ein rasselnder Husten unterbrach seinen Vortrag, dann sprach er weiter. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub … Weiterlesen Die Auflösung.

B. schämend.

Seine Zähne seien ganz krumm, findet F. Kleine gelbliche Brocken, die irgendwie bizarr aus der Mundhöhle ragen. Er schämt sich für seine Zähne. Eine gute Freundin sagt ihm: Wenn du lächelst, gehen drei Sonnen auf. Doch F. tut es ungern, tut es selten, und wenn er es tut, dann lieber im Dunkeln. B. schämt sich … Weiterlesen B. schämend.

8848.

Er ist kein Bergsteiger. War er nie, wird er nie. Schon der Blick von einem Balkon in der dritten Etage lässt einen gewissen Schwindel entstehen und Schweiß ausbrechen. Er ist nicht Edmund Hillary, und er ist nicht Tenzing Norgay. Die beiden standen als erste Menschen auf dem Mount Everest, 8848 Meter über Meer. Natürlich waren … Weiterlesen 8848.

Die Luft ist draußen.

Es ist still, das Wasser verschlingt jedes Geräusch, bevor es entsteht. Er ist abgetaucht. Wie ein träger Astronaut schwebt er unter dem Spiegel, schroff eingerahmt von fernen Ufern. Einige Pflanzen tanzen langsam und taktlos vor seinem Auge, hin und wieder leuchtet kurz das Schuppenkleid eines Fisches auf. Mehr ist nicht da, das ist alles, was … Weiterlesen Die Luft ist draußen.

Vielleicht Unkraut.

Er glaubte, er sei auf dem richtigen Weg. Man geht ja meistens auf verschiedenen Straßen gleichzeitig durchs Leben, und diese schien zu den guten Straßen zu zählen. Der Asphalt war robust, wenn auch an einigen Stellen Unkraut aus großen Ritzen wuchs, doch ohne Unkraut geht es nicht, Unkraut ist auch Leben, ist wahr und echt. Er … Weiterlesen Vielleicht Unkraut.

Sie wird Astronautin.

Hinauf zum Mond will sie, hinaus ins All, hinein ins Nichts, denn hier kann und will sie nicht bleiben, hier ist der ganze Dreck, der ihre Poren verstopft, ihre Lungen perforiert und in die Ritzen kriecht, hier ist dieser stetig wachsende Berg, den sie hinter sich herzieht und mühsam durch die Zeit schleift, hier ist … Weiterlesen Sie wird Astronautin.

Kein halber Liter.

Der Mond ist eine Sichel, die Klinge schneidet Ritzen in den Himmel, in denen sich die Sterne verstecken können, wenn sie mögen. Auch sie versteckt sich. Versteckt sich vor den Augen, den stechenden, den musternden. Versteckt sich vor den Händen, den schubsenden, den haltenden, den streichelnden und schlagenden. Versteckt sich vor den Stimmen, den rufenden … Weiterlesen Kein halber Liter.

Strafzettel.

Sie war wohl etwa zwei Jahrzehnte alt, als man ihr sagte, dass etwas fehle. Dass es nicht reiche, nicht genüge. Dass sie nicht genüge. Sie hörte es nicht oft, und stets nur aus einem Mund, dem Mund eines Mannes, von dem sie damals dachte, dass er imstande sein könnte, all das einzulösen, was sie sich … Weiterlesen Strafzettel.

Die letzte Schicht.

Die Zeit nagt an den Schichten ihrer Haut, und irgendwann wird sich die letzte Schicht vom Fleisch gelöst haben, irgendwann wird jeder Moment ihres Daseins unter Staub begraben liegen, irgendwann wird sich jede Erinnerung in einzelne Moleküle auflösen, irgendwann wird ihr Bild in anderen Köpfen und Herzen verblassen und ausbluten. Irgendwann wird dieses Irgendwann zum … Weiterlesen Die letzte Schicht.

Zwischen den Stühlen.

Ihr Freund übergibt sich auf den Teppich, und sie ist entzückt, denn die zähe Masse aus Lebensmittelderivaten und Lagerbier ist in beeindruckender Form. «Oh, Schatz, schau!» japst sie begeistert. «Du hast ein Herz gekotzt! Das sieht doch aus wie ein Herz, oder?» Er nickt müde, doch er sagt nichts, es käme wohl nichts Gutes dabei … Weiterlesen Zwischen den Stühlen.

Flugzeuge.

Sie liegt auf der Straße und sich selbst im Weg. Die Welt ist hell, das Licht eine arrogante Macht, und die Blätter der Bäume tanzen in einem Wind, den sie schon lange nicht mehr spürt. Irgendwann tauchten sie auf, die Flugzeuge, zu Beginn nur als kleine Punkte im Stillleben des Horizonts. Doch sie kamen rasch … Weiterlesen Flugzeuge.

Distanzen. Dissonanzen.

Wenn sie ein Auge schließt, entfliehen die Distanzen. Keine Nähe mehr, nichts bleibt greifbar, und alles, was sie sieht, treibt ungenau im Raum. Die Landschaft wird zum flachen Gewühl aus Farben, eine Dimension ist keine Dimension mehr, jede Tiefe ist nur noch Theorie. Sie benennt die Entfernungen. Und sie weitet alles aus, bis sie sicher … Weiterlesen Distanzen. Dissonanzen.

Was fällt ihnen ein.

Er blättert in einer Zeitschrift, die Schrift der Zeit, die Zeit in Schrift und auch in Bildern, und einige dieser Bilder lassen ihn hadern und verzagen. Wie er sie verabscheut. Eine stilisierte Aufnahme zeigt notleidende Kinder aus einem afrikanischen Land, sie lachen in die Kamera, und er malt sich aus, wie seltsam und aufregend es … Weiterlesen Was fällt ihnen ein.

Die entfärbte Welt.

Die Wiesen sind nicht mehr grün, die Magnolien nicht mehr rosa, der Himmel ist am Tag nicht mehr blau und an lauen Abenden weder orange noch violett, und wenn er sich schneidet, rinnt das Blut tiefschwarz über die Haut. Seine Welt ist entfärbt, und was bleibt, sind Schwarz und Weiß und Schattierungen von Grau. Er … Weiterlesen Die entfärbte Welt.

Morgenstern lügt.

Auf dem Tischlein neben ihrem Bett steht ein kleiner Kalender, der ihr jeden Tag verrät, wie sie ihr Leben zu leben hat, und am heutigen Tag steht dort ein Satz von Christian Morgenstern, der behauptet, dass eigentlich alles schön sei, was man mit Liebe betrachte, doch sie glaubt ihm nicht, sie bezichtigt Christian Morgenstern der … Weiterlesen Morgenstern lügt.

Ein Gemälde.

Sie steht vor der Staffelei und starrt auf die Leinwand, den Pinsel noch in der Hand. An den Borsten hängt ein Tropfen Farbe, der nach unten drängt, sich zu lösen versucht und schließlich zu Boden fällt, vor ihren Füssen zerschellt, ein Klecks wie ein Mahnmal. Sie betrachtet ihr Werk, dieses Abbild ihrer selbst. Das ist … Weiterlesen Ein Gemälde.

Die dritte Person.

Sie weiß, dass man vorwärts schauen muss. Dass man kämpfen muss. Dass man all die Tränen und bitteren Pillen schlucken muss. Sie weiß, was man tun muss, um mit der Zeit Schritt halten zu können, doch sie weiß auch, dass dieses «man» in der dritten Person steht, sie selbst aber in der ersten. Wenn sie … Weiterlesen Die dritte Person.