Auf dem Tischlein neben ihrem Bett steht ein kleiner Kalender, der ihr jeden Tag verrät, wie sie ihr Leben zu leben hat, und am heutigen Tag steht dort ein Satz von Christian Morgenstern, der behauptet, dass eigentlich alles schön sei, was man mit Liebe betrachte, doch sie glaubt ihm nicht, sie bezichtigt Christian Morgenstern der Lüge und schleudert den Kalender zu Boden, schleudert die Vase mit der getrockneten Rose hinterher, ebenso ein Wasserglas und eine kleine Holztruhe, und dann liegt alles verstreut in ihrem Zimmer, nichts davon ist schön, nichts davon ist zumindest hübsch oder angenehm, es sind nur Gegenstände, zum Teil zerbrochen und entzweit, eine Ansammlung von Dingen, aus welchen jede Farbigkeit entwichen ist, eine monochrome Unordnung, und sie fragt sich, ob wohl Christian Morgenstern darin etwas Schönes entdecken würde, ob er dieser fragmentierten Szenerie mit Liebe begegnen könnte, doch eine Antwort bleibt aus, Christian Morgenstern ist nicht zugegen, er ist tot, und ihr ist ziemlich unwohl, etwas steckt in ihrem Hals, ein dicker Klumpen, und sie möchte ihn herunterschlucken oder hinauswürgen, aber der Klumpen bleibt, wo er ist, der Klumpen, er ist immer da, doch am heutigen Tag scheint er größer zu sein als sonst, und sie steht auf, geht einige Schritte, hinein ins Badezimmer und dort zur Toilettenschüssel, doch sie wird ihn nicht los, den Klumpen, nur einige Speichelfäden entweichen, und dann stellt sie sich unter die Dusche und dreht den Wasserhahn auf, seift sich ein und reibt ihren Körper ab, als wäre er von hartnäckigem Schmutz überdeckt und durchdrungen, sie scheuert mit ihren Händen über die Haut, bis sich die roten Stellen mehren, und irgendwann dreht sie das Wasser ab, steht regungslos unter der schweigenden Brause und fragt sich, ob wohl Christian Morgenstern in ihr etwas Schönes entdecken würde, ob er dieser fragmentierten Szenerie mit Liebe begegnen könnte, doch eine Antwort bleibt aus, Christian Morgenstern ist nicht zugegen, er ist tot, und sie steigt aus der Dusche, stellt sich vor den Spiegel und steht einfach da, wie eine Statue in einem Museum, mit herabhängenden Armen und tropfenden Haaren, doch plötzlich zuckt sie zusammen, der ganze Körper spannt sich an, vor allem die Muskeln im Gesicht, und dann funkeln ihre Augen im Spiegel, Christian Morgenstern, du bist ein Arschloch, zischt sie, beißt auf ihre Unterlippe und wendet sich ab, geht zurück zum Bett, legt sich auf die kahle Matratze und angelt den kleinen Kalender vom Boden, betrachtet ihn lange Minuten, ohne sich zu regen, und schließlich blättert sie eine Seite weiter und stellt ihn wieder auf das Tischlein, und während zwischen den Scherben des Glases das Wasser allmählich verdunstet, liegt sie stumm und starr und atmet und wartet.

und wenn das schöne nur wäre, dass sich für eine einzelne sekunde das licht der sonne in einer der scherben bricht oder das warme wasser der dusche für einen wimpernschlag ein angenehmes gefühl auf der haut hinterlässt, so wäre morgenstern nur dann ein lügener, könnte sie es selbst nicht sehen, gefangen in augenscheinlicher wut, an der sicher auch morgenstern nichts schönes hätte entdecken können. es sei denn vielleicht, er dächte, dass der liebende blick alle wut verdunsten lässt, so wie die wärme das wasser zwischen den scherben.
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Ja, vielleicht würde Morgenstern, wäre er denn zugegen, tatsächlich versuchen, ihren Blick auf das Licht der Sonne zu lenken, das sich funkelnd in den Scherben bricht, um ihr das Schöne im Kleinen zu zeigen, als Anfang womöglich, um die Wut allmählich verdunsten zu lassen. Oder womöglich lügt Morgenstern gar nicht, womöglich zeigt sie lediglich die andere Seite der Wahrheit, und sie selbst ist diejenige, die sich belügt… Vielen lieben Dank für deine wunderbaren Worte…
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wenn Du Kummer hast, von Kummer völlig durchdrungen bist, dann gelingt es Dir nicht, das Schönste in allem zu entdecken, Du siehst schwarz. Alle Farben der Welt können Dich in diesem Moment nicht trösten.
Ihre Seele schaut total verbeult aus, wie soll sie da das Schöne ringsum erkennen. Erst mal müssen die blauen Flecken auf der Seele heilen, dann sieht sie das, was Morgenstern meinte, auch wenn er schon lange tot ist… *lächel*
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Liebe Bruni, es ist immer wieder schön, wie du meine Worte weiterdenkst und in neue Welten überführst… Vielen lieben Dank für deinen Kommentar und dein Auseinandersetzen mit dem Text…
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…sie hat wohl Liebeskummer und somit auch recht, dass Herr *Morgenstern lügt… aber Herr *Morgenstern hat es zumindest kurzeitig geschafft sie aus ihrer Gefühlslage zu holen… sie war nett aufgebracht und somit abgelenkt….. was steht auf dem nächsten Kalenderblatt? 😉
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So wie die Deutung des Textes überlass ich auch die Worte auf dem nächsten Kalenderblatt gern ganz und gar deiner Auffassung…
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Ich hab nun überhaupt keine Lust zu deuten, verrat es mir doch lieber.. 🙂
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Kann ich nicht, hab Schweigepflicht, tut mir leid
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