Er sah seltsam aus, merkwürdig, sonderbar, eigenartig, doch sie mochte diese eigene Art, die ihrer Ansicht nach viel zu rar geworden war. In seinen langen Haaren hatten sich einige Sonnenstrahlen verfangen und versuchten emsig, sich zu befreien, doch es gelang ihnen nicht, zu dicht war der Schopf, zu verflucht verflochten die dunklen Strähnen, also leuchteten die entmutigten Sonnenstrahlen ein wenig vor sich hin und ließen einen hellen Ring über seinem Haupt entstehen, wodurch wiederum sein seltsam sonderbares Aussehen nur noch merkwürdiger schien. Sie beobachtete ihn, wie er vermeintlich schwerelos über den staubtrockenen Boden schritt. Sein Rücken war gerade, die Haltung signalisierte ein gesundes Selbstbewusstsein, das jedoch nicht die Grenze zur Arroganz zu überschreiten drohte. Seine Arme waren ziemlich lang, seine Nase ein wenig krumm, seine Augenbrauen buschig. Doch ansonsten war er durchaus attraktiv. Kein Schönling, aber schon schön, richtig schön, fand sie und nippte noch einmal am Weinglas. Dann stand sie auf, strich ihr Kleid glatt, atmete tief ein und ging schnellen Schrittes auf ihn zu.
«Schöne Schuhe», sagte sie, und er blickte nach unten auf seine Füße.
«Danke. Waren ein Sonderangebot.»
«Hübsch. Ich mag Sandalen. Nicht alle Männer können Sandalen tragen. Meistens sieht’s ziemlich übel aus. Aber dir stehen sie.»
«Letzthin hatte ich einen eingewachsenen Zehennagel. Richtig schlimm. Da hättest du dich wohl in anderen Worten geäußert.»
«Hat’s wehgetan?» fragte sie.
«Ein wenig. Aber ich bin das Leiden gewohnt, es macht mir nichts aus.»
«Aha.»
«Ja.» Er schien ein wenig gelangweilt, oder schüchtern, oder beides. Vielleicht hatte er auch Schmerzen im Kreuz, zumindest wirkte es so, als er seinen Rücken zu beugen versuchte, bis es leise knackte. Sie erschrak kurz und versuchte dann, das Gespräch in die richtigen Bahnen zu lenken.
«Ich bin Maria.»
«Jesus.»
«Oha. Ist ein spanischer Name, oder?»
«Ja, so geht die Kunde.»
«Redest du immer so geschwollen?» wollte sie wissen. Er nickte.
«Privatschule. War ziemlich elitär. Ich musste hin, meine Eltern wollten es so.»
«Sollen wir was zusammen trinken?» fragte sie, nachdem sie in allen Winkeln ihres Leibes nach Mut gesucht hatte.
«Ich bin nicht sonderlich durstig», gab er zurück.
«Okay.»
«Aber zu einem Glas Wein sage ich nicht Nein.» Er lächelte, wohl über seinen gelungenen Reim mit Wein und Nein. Dann blickte er auf seine Sandalen und zuckte leicht mit den Schultern.
Sie saßen in einer Ecke der Bar und tranken Wein. Jesus knabberte an einem trockenen Brot. In seinem Schnauzbart sammelten sich die Krümel, und sie hätte alles dafür gegeben, ihm diese Krümel aus den Stoppeln zu klauben, mit der Zunge, mit den Lippen. Nur zu gerne hätte sie ihre schlanken Finger über seinen Körper gleiten lassen, hätte jeden Quadratzentimeter seiner Haut erkundet und liebkost. Jesus war interessant. Er sprach nicht viel, doch wenn er es tat, kamen die Worte in einer Art und Weise aus seinem Mund, als seien sie in seiner Kehle zu kleinen Kunstwerken drapiert worden. Sie registrierte seine Blicke, die sich immer wieder in ihr Dekolletee verirrten.
«Magst du mit zu mir kommen?» fragte sie, als der Wein ihre Zunge ausreichend gelockert hatte.
«Was gedenkst du dort zu tun?»
«Ich weiß nicht. Reden vielleicht, Brot essen. Ich hab auch Wein.»
«Zu einem Glas Wein sage ich nicht Nein.» Er lächelte erneut, freute sich nach wie vor über sein Reimtalent, und sie ließ ihm die Freude, schließlich rückten ihre Fantasien, die sie in der vergangenen Stunde mit einem warmen Gefühl erfüllt hatte, allmählich näher an die Realität heran.
«Also gehen wir.»
«So sei es.»
Ihre Wohnung war klein, eigentlich bestand sie nur aus einem Zimmer, in welchem sich Bett, Tisch und Stuhl aneinanderdrängten. Dem Stuhl fehlte ein Bein, der Tisch war überfüllt mit Strickwaren, also saßen sie nebeneinander auf dem Bett, und Maria war ziemlich froh, dass sie am Morgen noch ein frisches Laken aufgezogen hatte. Sie stellte ihr Glas auf den Holzboden, legte eine Hand auf ihr Bein, direkt beim Saum ihres Kleides, und schob sie Zentimeter um Zentimeter nach oben. Jesus starrte wie gebannt auf ihre Haut, die sich vor seinen Augen ausdehnte. Als sie ihre andere Hand auf seinen Oberschenkel legte, zuckte er heftig zusammen. Offensichtlich war er im tiefsten Innern getroffen, denn unmittelbar danach ertönte ein lautstarkes Grollen, das aus seinem Körper zu kommen schien. Jesus hatte auf ihre Matratze gefurzt.
Maria konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, doch Jesus schien peinlich berührt. Sein Antlitz nahm eine rötliche Färbung an, immer mehr, auf seiner Stirn traten Adern hervor, als wären Würmer unter seine Haut gefahren. Hastig stellte er sein Weinglas auf den wackligen Stuhl, fuhr hoch und presste ein unverständliches Gemurmel zwischen den Lippen hervor. Dann stürmte er aus dem Zimmer.
Seither ist sie ihm nie mehr begegnet. Doch sie sieht ihn überall. Wenn sie an warmen Frühlingstagen ins Gebirge wandert, steht er plötzlich vor ihr, bei einer Weggabelung oder vor kleinen Kapellen. Wenn sie in ausgefransten und heruntergekommenen Hotels übernachtet, hängt sein Bild an der Wand und scheint über ihren unruhigen Schlaf zu wachen, scheint sie zu beobachten, wenn sie sich berührt und dabei an ihn denkt. Wenn sie ein Schuhgeschäft betritt, fällt ihr Blick sofort auf die Sandalen, seine Sandalen, die er so attraktiv ausfüllte. Sie kann ihn nicht vergessen, will ihn nicht vergessen. Und kein Tag vergeht, ohne dass sie sich wünscht, Jesus hätte damals nicht gefurzt. Doch er tat es, und nun ist er weg, und ihr Leben ist ein einziger Konjunktiv.

Blasphemie. Schreckliche Blasphemie…;-)
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Oh Gott! Entschuldigt, Eure Heiligkeit…
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fast schon tragisch-komisch. und wunderbar.
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Vielen lieben Dank!
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Danke für diese wirklich sehr amüsante Geschichte. Du hast sie sehr lebendig geschrieben. 🙂
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Ich habe zu danken, fürs Lesen und für deine Worte…
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