Ein altes, müdes Tier.

Die Welt flackert, eine Bildstörung, flüchtige Irrlichter in der Dämmerung. Dein rechtes Auge, es zuckt wieder. Das Zucken gehört zu dir wie deine Stimme, dein Gang, dein Schniefen, wenn du erkältet bist. Du streichst dir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, doch sie fällt sofort zurück. Du versuchst es nochmals. Scheiterst erneut. Also gibst du auf. … Weiterlesen Ein altes, müdes Tier.

Werner Huber hat genug.

Ich habe genug, ruft er, und er tut es laut, mit einem metallischen, schneidenden Klang in der Stimme. Seine Botschaft durchbricht die träge Stille, die in den Räumen der Pflegestation liegt, hallt von den zumeist kahlen Wänden zurück. Kurz ist das Klappern von Geschirr zu hören, dann wieder der Ausruf. Ich habe genug! Es ist … Weiterlesen Werner Huber hat genug.

Der unermessliche Reichtum.

Ankündigung Am Samstag, 8. Januar, wird bei der mächtigen Ulme auf dem großen Feld am Dorfrand etwas Außergewöhnliches geschehen. Jede Person, die teilnimmt, wird fürstlich belohnt werden und unermesslichen Reichtum nach Hause nehmen. Mehr wird nicht verraten. *** Die kleine Karte, die eines Tages in den Briefkästen aller Haushalte des Dorfes lag, wirkte reichlich unscheinbar. … Weiterlesen Der unermessliche Reichtum.

Denkwürdig.

Sie hat ein Eichhörnchen überfahren. Es lief vor ihr über die Straße, und die Straße war nass, und die Sonne, die durch die Wolkendecke gebrochen war, hatte sie geblendet, und sie war wirklich aufmerksam und konzentriert, sie war eigentlich eine gute Autofahrerin, und sie hat noch versucht, dem Tier auszuweichen, doch das alles ändert nichts … Weiterlesen Denkwürdig.

Wurst.

Der kleine Vogel war wohl aus dem Nest gefallen. Er lag unter einem Baum auf dem Asphalt und zitterte, konnte sich kaum bewegen. Sie kniete sich neben ihn hin, redete auf ihn ein, doch Worte konnten den Vogel nicht retten, das wusste sie. Also nahm sie ihn hoch und trug ihn nach Hause, baute ihm … Weiterlesen Wurst.

Die Reibfläche.

Sie schiebt ihren Daumen langsam über das raue Material. Unter ihrer Haut fühlt es sich an wie Schleifpapier, feines Schleifpapier, das man verwendet, um die Flächen und Kanten von Holz möglichst weich und sanft zu machen. Die Reibfläche ist noch unbenutzt, kein Strich stört das Bild, keine Spuren sind zu sehen oder zu spüren. Sie … Weiterlesen Die Reibfläche.

Endlich.

Als es endlich zu Ende geht, ist er erstaunt, dass es so lange gedauert hat, und meint damit sowohl das Sterben als auch das Leben. Er hat sich zuvor nur selten Gedanken über die Zeit gemacht, doch jetzt, an ihrem Ende, fragt er sich, was sie eigentlich bedeutet, welchen Wert sie hat, welches Gewicht. Könnte … Weiterlesen Endlich.

Was sie tun würde.

Eigentlich müsste sie aufstehen, müsste sich bereit machen, müsste zur Arbeit gehen, müsste all das tun, was sie jeden Tag tut, doch heute ist nicht jeder Tag, sie mag nicht tun, was sie tun müsste, also bleibt sie liegen und denkt daran, was sie tun würde, wenn es ein Tag wie jeder andere wäre; sie … Weiterlesen Was sie tun würde.

Hätte.

Der Gedanke hätte überall auftauchen können, doch er tut es an der Biegung eines Flusses. Eva ist mit ihrer Freundin Diana unterwegs, ein Wanderausflug, längst zur Tradition geworden. Es ist ein relativ warmer Tag, ein lauer Wind schiebt Wolkenfetzen über den Himmel, in den Waldstücken vermengen sich Vogelrufe und das Rauschen der Blätter. Als sie … Weiterlesen Hätte.

Sil-ben-tren-nung.

Deutsch, steht auf einem Etikett auf der Frontseite des Schulbuches, und unter diesem Deutsch steht sein Name, doch ansonsten gibt es auf dem Umschlag nichts zu lesen, denn das Schulbuch ist fein säuberlich eingefasst, in braunes Papier, wohl darum, dass man es wiederverwenden kann, es einem anderen Jungen oder einem Mädchen in die Hände drücken … Weiterlesen Sil-ben-tren-nung.

Landwirtschaft und Liebe.

Bert liest eine Geschichte von einem, der eine Geschichte liest, und in dieser Geschichte geht es um Landwirtschaft, doch Bert hat keine Ahnung von Landwirtschaft, Agrarwissenschaften sind ihm völlig fremd, und der einzige Bauer, den er kennt, kennt er noch von früher, aus der Schule, damals war er ein stämmiger Junge mit einem dicken Hals, … Weiterlesen Landwirtschaft und Liebe.

Tim oder Tom.

So jung kommen wir nicht mehr zusammen, sagte Dirk, und Olli redete darüber, wie die Zeit sich so beeilt und so wenig bleibt von dem, was einmal war, und David meinte, dass wir Helden sein könnten, nur für einen Tag, doch der Tag, er kam nicht, niemand wurde ein Held, höchstens Tim oder Tom, der … Weiterlesen Tim oder Tom.

Plastik.

Manchmal schrumpft die Welt zu einem einzigen Raum, und dieser Raum ist gefüllt mit künstlichen Pflanzen, bunten und grünen Kunststoffgebilden, die versuchen, die Natur nachzuahmen, dabei aber doch nur Plastik sind, entstanden in einer großen Fabrik, in der unzählige Menschen arbeiten, die man nicht kennt, und diese Menschen drücken Knöpfe und fügen Teile zusammen und … Weiterlesen Plastik.

Margeriten.

Sie schaut auf ihre Schuhe, auf die Art und Weise, wie die Schnürsenkel zur Seite hängen. Sie betrachtet die Stelle, an welcher die lederne Zunge des Schuhs endet und ihr Bein beginnt, diese Grenze zwischen der Haut eines toten Tieres und der Haut eines lebendigen Menschen. Es ist seltsam, wie sich alles ineinanderfügt, aber dennoch … Weiterlesen Margeriten.

Blumenmädchen.

Das Mädchen hält die Blumen in der Hand und die Hand ins Wasser. Wo es auch geht und steht, wohin es sich auch verirrt und treiben lässt, es hält die Blumen ins Wasser; an kleinen Seen und unentwegt zerrenden Flüssen, an gurgelnden Bächen, an jedem Brunnen. Es hat die Blumen nicht gepflückt, hat die Stiele … Weiterlesen Blumenmädchen.

Zwei schweigen.

Am Straßenrand hängt ein junger Mann an einem Kreuz, die Arme ausgebreitet, den Kopf leicht abgewinkelt. An den Handflächen ist das Blut eingetrocknet, dunkle Flecken umranden die Stellen, an denen man ihm die Nägel durch das Fleisch getrieben hat. Sein Gesicht sieht traurig aus. Sie steigt von ihrem Fahrrad, lehnt es an die Leitplanke und … Weiterlesen Zwei schweigen.

Placido Domingo.

Der alte Mann hört im Radio, dass Placido Domingo Frauen belästigt haben soll, und er kennt Placido Domingo eigentlich nicht, er kennt Placido Domingo nur von seiner Frau, denn sie mochte Placido Domingo, mochte seine Stimme, hörte ihn häufig singen, und der alte Mann konnte mit diesen Klängen nie viel anfangen, doch sie vertrieben zumindest … Weiterlesen Placido Domingo.

Ein Steinwurf.

Dieser Stein war schon vor mir da, denkt er, und wenn ich dereinst nicht mehr existieren werde, dann wird, ach, egal, er denkt nicht mehr weiter, mag sich nicht länger vor Augen führen, dass sein Dasein irgendwann nicht mehr da sein wird, dass es enden wird, dass sein Tod womöglich nur einen Steinwurf entfernt in … Weiterlesen Ein Steinwurf.

Verdammte Ambivalenz.

Nach dem Regen die Würmer auf dem Asphalt, ihr seltsames Fortbewegen, diese Wellen, die durch den langen Körper fließen, und später werden einige von diesen Regenwürmern vertrocknen, werden spröde und hart werden und sterben und dann wie verkohlte Gummischnüre auf dem Boden liegen, übersät von Ameisen, aber jetzt, jetzt leben sie noch, obwohl man nicht … Weiterlesen Verdammte Ambivalenz.