Sie sehen alles.

Sie sind hunderttausend Jahre alt und neu geboren, immer wieder. Sie liegt auf ihm, ihr Rücken auf seinem Bauch, sie formen eine Einheit, und wie seine Hände über ihre Haut gleiten, drängend, verlangend, so berührt er auch sich selbst, in ihr. Es ist vollkommen dunkel, doch sie sehen alles, sie malen Bilder mit ihren Fingern … Weiterlesen Sie sehen alles.

Die Zeit zerstört alles.

Während ihr alles entgleitet, gleiten ihre Finger über die Haut. Stolpern über ihre Lippen, ihr Kinn, ihren Hals. Zwischen den Brüsten kommen sie kurz zur Ruhe, bewegen sich dann langsam zur Seite. Die Daumen umkreisen die Brustwarzen, ganz vorsichtig, als wären sie zerbrechlich. Wahrscheinlich sind sie es. Alles ist zerbrechlich. Als sie sich kennenlernten, kreiste … Weiterlesen Die Zeit zerstört alles.

Fünf Minuten vor Ladenschluss.

Die adrett gekleideten Staatsmänner, sie schütteln sich die frisch gewaschenen Hände und gratulieren sich gegenseitig zum Erreichen einer Übereinkunft, die den schönen Schein wahrt. Der erschöpfte Langstreckenläufer weint Tränen des Glücks, während ein konserviertes Sinfonieorchester seine Rührung mit einer pathetischen Hymne untermalt, um seinen Sieg zu zelebrieren. Ein Gameshow-Kandidat ballt die Faust und reckt sie … Weiterlesen Fünf Minuten vor Ladenschluss.

Traugottverdammt.

Er war schön. Nicht bloß hübsch, nicht bloß gutaussehend, nicht bloß attraktiv. Sondern schön, richtig schön. So schön, dass Frauen, die ihn erblickten, von körperlichen Reaktionen berichteten, die einem Orgasmus nicht unähnlich waren, und manchmal ließen diese Emotionen gar Tränen der Glückseligkeit aus ihren Augen strömen. Männer zweifelten derweil an ihrer heterosexuellen Ausrichtung, wenn sie … Weiterlesen Traugottverdammt.

Strafzettel.

Sie war wohl etwa zwei Jahrzehnte alt, als man ihr sagte, dass etwas fehle. Dass es nicht reiche, nicht genüge. Dass sie nicht genüge. Sie hörte es nicht oft, und stets nur aus einem Mund, dem Mund eines Mannes, von dem sie damals dachte, dass er imstande sein könnte, all das einzulösen, was sie sich … Weiterlesen Strafzettel.

Helena.

Sie war wunderschön. Sie war damals die Schönste, schöner als der ganze Rest, und wenn es mir möglich war, sie zu sehen, war sie die einzige Frau der Welt. Es gab keine anderen Frauen mehr, nirgends. Nur sie. Helena. Helena stand am Strand eines Meeres, das ich nicht kannte. Sie trug lediglich ein Bikini-Höschen, sonst … Weiterlesen Helena.

Alles rauscht vorbei.

Sie sitzt im Zug und ist trotzdem nicht da. Sie blickt auf die Landschaft vor dem Fenster, und alles rauscht vorbei, doch sie sieht etwas anderes. Ihr Leben war gut, unter dem Strich, den sie am immer näher rückenden Ende ziehen müssen wird. Es war ein Leben. Ausreichend gefüllt mit den Dingen, die es ausmachen, … Weiterlesen Alles rauscht vorbei.

Seltsam.

«Sag, liebst du mich?» fragt sie, und die Stimme zittert, doch das tut sie schon seit Jahrzehnten. Er schaut sie an, aus diesen dunklen und warmen Augen, die immer ein wenig wässrig sind, und lächelt. Dann ergreift er ihre Hand und küsst die fleckige Haut, ganz sanft, als wäre sie aus dünnem Papier. «Sieh doch, … Weiterlesen Seltsam.

Mitte mit Tee.

Finde deine Mitte, steht auf dem kleinen Fetzen Papier, der an einem dünnen Faden am Teebeutel hängt, und obschon ich von Teebeutelphilosophie vielleicht noch weniger halte als von Tee an sich, folge ich der befehlsmäßigen Aufforderung, zumal das Finden als grundsätzlich erfüllende Tätigkeit nicht selten ein schönes Erlebnis darzustellen vermag, außer man findet seinen Meister … Weiterlesen Mitte mit Tee.

Durchschaubar.

Schon einige Male sagte man ihr, sie sei leicht zu durchschauen, man sprach von ihrer seidenpapierdünnen Haut und vom trivialen Glanz ihrer Oberfläche, von einer Hülle ohne Inhalt und von hübscher Einfalt, und sie hörte zu, weil sie nicht anders konnte, war den Worten ausgeliefert wie ein angeleintes Nutztier der Gerte, nur dass die blutroten … Weiterlesen Durchschaubar.

Gut ist, was zählt.

Wir hadern damit, dass die Liebe kein Monopol hat, dass wir sie fühlen und trotzdem weinen, trotzdem wüten, und das Leben, das wir leben, ist so, wie es sein soll, und dennoch reibt es uns auf, in gewissen Momenten, der kalte Wind schlägt uns ins Gesicht, lässt Lächeln gefrieren, und manchmal öffnen wir Ventile, der … Weiterlesen Gut ist, was zählt.

Fünf Monate.

Eines Tages kam die Meldung. Man sei sich sicher, es gebe keine Zweifel. Die Welt werde untergehen, vollkommen, in sechs Monaten. Die Menschen, sie mochten es zuerst nicht glauben, beharrten auf einem Irrtum, doch immer mehr stellte sich Gewissheit ein. Panik breitete sich aus, blinde Wut entlud sich, wo sie nur konnte. Dann verfiel alles … Weiterlesen Fünf Monate.

Das Bild.

Wenn alles Licht entschwunden und jede Farbe verblasst ist, wenn das Schwarz der Nacht sich ausbreitet und den Raum in kahles Nichts kleidet, schliesse ich meine Augen, um dich sehen zu können. In meinem Kopf entsteht ein Bild, das wahre Bild von dir, von deinem Gesicht, und meine Hände auf deinem Körper führen das Bild … Weiterlesen Das Bild.

Am Ufer des Sees II

Das Banale absorbiert dich, nimmt sich Raum, der ihm nicht zustehen sollte. Die Nichtigkeit baut grosse Städte, während das Essenzielle am Rande der Welt steht, in einer Waldlichtung, am Ufer eines Sees oder im stummen Getöse der Meeresbrandung. Was nicht wichtig ist, macht sich wichtig. Was wichtig ist, macht sich rar. Was du nicht brauchst, … Weiterlesen Am Ufer des Sees II

Am Ufer des Sees I

Die Hände in den Hosentaschen vergrabend stehst du am Ufer des Sees. Blickst auf die spiegelglatte Fläche, die im fahlen Licht eines schüchternen Teilmondes vor dir liegt. Und du denkst daran, was hinter dir liegt. Du erinnerst dich an Momente, in denen du am Ufer des Sees standest, die Hände in den Hosentaschen vergraben, den … Weiterlesen Am Ufer des Sees I

Vom Rand der Zeit.

Vom Rand der Zeit hinein in die Mitte, in das Hier und Jetzt, in das Zentrum eines Herzens, in dessen Räumen sich an manchen Stellen Staub gesammelt hatte, der nun aufgewirbelt im Sonnenlicht tanzt, während in der Mitte etwas blüht, dessen Schönheit über den Rand der Zeit hinaus strahlt. Weiterlesen Vom Rand der Zeit.

Während man versucht, in den Moment hineinzukommen, bewegt man sich bereits von ihm weg.

Wenn das abstrakte Konstrukt eines Traumes sich zur greifbaren Realität formt, ist diese Wandlung und Verwandlung oftmals nicht sofort erkennbar. Die Zeit, die es braucht, um die Wahrhaftigkeit zu realisieren, ist die gleiche Zeit, die man gerne anhalten würde. Während man versucht, in den Moment hineinzukommen, bewegt man sich bereits von ihm weg. Und vielleicht offenbart sich die echte Schönheit der Momente erst im Zurückblicken am Ende des Lebens. Aber dann ist … Weiterlesen Während man versucht, in den Moment hineinzukommen, bewegt man sich bereits von ihm weg.