Sie sitzt im Zug und ist trotzdem nicht da. Sie blickt auf die Landschaft vor dem Fenster, und alles rauscht vorbei, doch sie sieht etwas anderes.
Ihr Leben war gut, unter dem Strich, den sie am immer näher rückenden Ende ziehen müssen wird. Es war ein Leben. Ausreichend gefüllt mit den Dingen, die es ausmachen, weder stetiger Tanz noch endloser Kampf. Alles hatte seine Ordnung, fügte sich irgendwann zusammen. Es gab keinen Grund, sich zu beschweren, also tat sie es nicht. Hätte man sie gefragt, ob sie mit ihrem Leben zufrieden sei, wäre ein Nein unangebracht gewesen. Doch niemand fragt, also blickt sie auf die Landschaft vor dem Fenster und auf das Leben vor der Gegenwart, und alles rauscht vorbei, doch sie sieht etwas anderes.
Sie war jung, vielleicht zu jung. Er war etwas älter, aber gleich groß wie sie, und einen schöneren Mann hatte sie weder zuvor noch danach je gesehen. Es war keine Attraktivität, die sich in Worte kleiden ließ, sondern jene Schönheit, der keine Sprache gerecht werden kann. Sie trafen sich abseits der wachsamen Augen der Leute, denn er war ihr vertraut wie niemand sonst, aber ein Fremder im Dorf, ein Fremder im Land, und ein Umgang mit ihm stieß auf Ablehnung. Also saßen sie meistens an einem kleinen Bach in einer Waldlichtung, zu welcher sich sonst niemand verirrte. Die Sonne, die durch die Blätter und Zweige schien, ließ die Muster am Boden tanzen, und sie redeten, sie hielten sich, waren einander nahe und vereinigten sich im Schutze einiger Sträucher. Der Bach zu ihren Füssen, er trug ihre Gedanken und Hoffnungen an ferne Orte und mitten hinein in den Kern aller Dinge. Vor geschlossenen Augen entstand eine neue Welt, eine neues Sein. Er war alles, sie war alles, alles war so unbeschreiblich wundervoll, alles hätte so bleiben sollen. Und dann, ohne Vorwarnung, blieb er weg. Ohne Abschied, ohne Spuren. Er war verschwunden. Und blieb es.
Ihr Leben war gut. Aber nie mehr so gut wie in jenem Sommer. Irgendwann fand sie einen neuen Mann, durchaus attraktiv und liebevoll. Sie heirateten, sie bekamen Kinder, und alles hatte seine Ordnung, fügte sich irgendwann zusammen. Und jetzt sitzt sie im Zug und ist trotzdem nicht da. Sie blickt auf die Landschaft vor dem Fenster, und alles rauscht vorbei, doch sie sieht etwas anderes. Da ist ein kleiner Bach in einer Waldlichtung. Die Sonne, die durch die Blätter und Zweige scheint, lässt die Muster am Boden tanzen, und sie steigt ins Wasser, das ihre nackten Knöchel umspielt und streichelt. Sie wirft etwas hinein und beobachtet, wie es allmählich forttreibt. Dann senkt sie ihren Blick.
Sie sitzt im Zug und ist trotzdem nicht da. Sie blickt auf die Landschaft vor dem Fenster, und alles rauscht vorbei. Irgendwann hält der Zug an. Sie steht auf und steigt aus.

….wo ist er abgeblieben, was wäre gewesen wenn er nicht verschwunden wäre……?
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Du darfst sehr gerne eigene Antworten auf deine Fragen finden, oder die Geschichte umdenken, damit die Fragen sich erübrigen… So oder so vielen Dank fürs Lesen!
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Schöner Text. Wirklich. Hätte ich ihn doch bloß früher gelesen. Jetzt sitze ich hier am Sonntag Abend und grübele. Verdammt.
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Bitte entschuldige, dir den Sonntagabend zu vergrübeln war keineswegs meine Absicht. Obwohl. Hm. Nun. Jedenfalls. Danke. Trotzdem.
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Texte müssen weh tun…Ich habe zu danken…;-)
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Deine Geschichten sind unglaublich inspirierend…
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Herzlichen Liebdank fürs Lesen!
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Sehr schön geschrieben und wunderbares Foto!
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Danke dir… Ja, mag das Foto auch, ohne das Bild gäbe es auch den Text nicht…
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