Gregoria ist verärgert.

Gregoria ist verärgert, sie ist wahrlich verärgert, nicht immer, aber doch ziemlich häufig, sehr häufig sogar, denn das Wort ziemlich ist ziemlich relativierend, fast so relativierend wie das Wort relativ, und Gregoria ist nicht relativ häufig verärgert, auch nicht ziemlich häufig verärgert, sondern sehr häufig verärgert, sie ist auch verärgert über Wörter wie ziemlich und … Weiterlesen Gregoria ist verärgert.

Die helle Seite.

Ihre Finger gleiten über die weiche Oberfläche, schiebend und drückend, tastend und streichelnd. Sie fertigt kleine Figuren aus schwarzer Knetmasse, schmale, feingliedrige, geschlechtslose Wesen, mit ähnlichen Proportionen und minimalen Unterschieden in Körperhaltung und Ausdruck. Sie stellt die Figuren auf ein langes Regalbrett an der Wand, eine neben die andere; eine schweigende Prozession der Gesichtslosen, eine … Weiterlesen Die helle Seite.

Kunst.

In einem großen und karg eingerichteten Raum hängt ein Mann ein weißes Leinentuch über einen Kleiderständer und nennt es Kunst. Er lädt einige Menschen ein, die er kennt, und diese laden einige Menschen ein, die er nicht kennt, und dann stehen diese Menschen im großen und karg eingerichteten Raum und bilden einen Kreis um das … Weiterlesen Kunst.

Insomnia.

Schon am Morgen, sofern er diesen verheissungsvollen Namen überhaupt verdiente, war sie nach einer nahezu schlaflosen Nacht viel zu früh erwacht. Draussen vor dem Fenster schlief die ganze Welt, jedes Haus war dunkel, nur beim alten Bäcker brannte Licht, denn obwohl er nicht mehr backen mag, steht er mitten in der Nacht auf, stellt sich … Weiterlesen Insomnia.

Katzenbabys.

Seitdem er die Medikamente nimmt, fühlt er sich besser, zumindest ein bisschen, ein Schulterzucken besser, aber eigentlich ändert sich nichts, die Schmerzen sind noch da, die verdammten Schmerzen. Am Tag zuvor nannte er einen Freund ein Arschloch, alleine deshalb, weil dieser ihm einen Naturarzt empfohlen hatte. Es ist einer der wenigen Freunde, die er hat, … Weiterlesen Katzenbabys.

Langfinger.

In Gedanken legt er seine Hand auf ihren nackten Bauch, der Nabel verschwindet, doch die Muttermale bleiben, hingestreute Punkte, kleine und große, und dann schaut er zu, wie seine Finger zu wachsen beginnen, immer länger werden, sich strecken und über ihre Haut kriechen, über ihre Rippen hin zu ihren Brüsten, dann zu den Schultern und … Weiterlesen Langfinger.

Mit großem Bedauern.

Als Frau Lehmann den Brief liest, vermag sie ihn zunächst gar nicht zu begreifen. Auf den ersten Zeilen steht in knappen Worten geschrieben, dass die Supermarktkette, für die Frau Lehmann arbeitet, sich in einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld bewege, sich konsequent um Effizienz bemühen und Optimierungspotenziale nutzen müsse. Einen Abschnitt weiter unten erklärt man ihr in … Weiterlesen Mit großem Bedauern.

Möbel.

Er weiß, dass man die Schrauben nicht allzu fest und heftig ins Holz drehen sollte, denn dann würden die Lackierung und wohl auch das Verbundmaterial beschädigt werden. Damit muss man rechnen, wenn man billige Möbel kauft, findet er, man kann zu diesem günstigen Preis keine erstklassige Qualität erwarten. Doch wenn man das Möbel vorsichtig und … Weiterlesen Möbel.

Pepe macht Schabernack.

Eigentlich heißt er ja Josef, doch weil er Paella und das spanische Temperament mag und schwarze Haare hat, nennt er sich José, und als er erkennt, dass José ein allzu häufiger spanischer Männername ist, bittet er jeden, ihn mit Pepe anzusprechen. Pepe passt zu ihm, Pepe klingt freundlich und nahbar, zumindest findet das Pepe. Wer … Weiterlesen Pepe macht Schabernack.

Die Mütze im Fluss.

Er ist acht Jahre alt, als ihm ein älterer Junge die Mütze vom Kopf reißt und sie in den nahen Fluss wirft. Er wird wütend und traurig zugleich, verflucht den Jungen und wünscht ihm alles Schlimme, beginnt zu weinen und rennt nach Hause. Sechzehn Jahre später hört er zufällig, dass der besagte Junge bei einem … Weiterlesen Die Mütze im Fluss.

Die Glühbirne im Kühlschrank.

Ich wäre ein schlechter Vergewaltiger, sagt er, unaufgefordert, und das ist befremdend. Wenn jemand explizit danach gefragt wird oder sich ein Gespräch in diese Richtung entwickelt, ist eine solche Aussage wohl zumeist spontan und unüberlegt, unreflektiert. Wer diese Wörter jedoch ohne konkrete Aufforderung seinem Mund entweichen lässt, hat sie zuvor offensichtlich bereits sortiert und zurechtgelegt, … Weiterlesen Die Glühbirne im Kühlschrank.

Kaputt.

Ein Mann erzählt, wie sein Vater starb. Er ist verreckt, sagt er. Erbärmlich verreckt. Am Ende war er nur noch Haut und Knochen, nur noch Haut und Knochen. Ganz bleich, die Haut wie Papier, oder nein, wie Gips. Als er endlich starb, war er schon lange nicht mehr am Leben. Er redet über den Vater … Weiterlesen Kaputt.

Meeresgrund.

Im Supermarkt ist jeder Salat in der Gemüseabteilung verfault, jeder einzelne Salatkopf grinst mit braunen Blättern aus seiner Kunststoffverpackung. Sie hebt einen Salatkopf hoch, wendet ihn in ihren zitternden Händen und knallt ihn wieder zurück ins Regal, greift sich den nächsten Salatkopf und schleudert auch diesen wieder zurück. Alles ist verfault! brüllt sie in die … Weiterlesen Meeresgrund.

Die Geschwüre.

Er kennt seine Nachbarn, und die meisten unter ihnen findet er in Ordnung; gute Leute, anständige Leute, kein Gesindel. Trotzdem hat er sein Grundstück mit alten Gitterstangen und Steinmauern eingezäunt. Auf diesem sicheren und geschützten Grundstück steht sein sicheres und geschütztes Haus, und in seinem sicheren und geschützten Haus hockt er, sicher und geschützt. Häufig … Weiterlesen Die Geschwüre.

Talion.

Da war jener Junge, vielleicht ein Jahr jünger als man selbst, und aus längst vergessenen Gründen geriet man aneinander. Es entwickelte sich ein kindlich-unbeholfener Disput, und irgendwann, wohl als Ersatz für ein fehlendes Argument, spuckte der Junge. Man wischte sich den fremden Speichel aus dem Gesicht, wehrte sich gegen einen plötzlich auftretenden Brechreiz und taumelte … Weiterlesen Talion.

Stimmbänder.

Wenn er in den Keller geht, dann nicht zum Lachen, sondern meistens, um seine Stimmbänder zu trainieren. Es geht ihm nicht um Klangfarbe oder Intonation, das Timbre ist ihm egal, überhaupt ist er ein furchtbarer Sänger. Trotzdem arbeitet er an seiner Stimme, damit sie möglichst lautstark wird. Lautstärke ist alles, findet er. Er sagt Dinge … Weiterlesen Stimmbänder.

Die alte Kälte.

Man mag ihn nicht, hat ihn nie gemocht. Vielleicht hat man es zu Beginn noch versucht, aber nie wirklich geschafft, und irgendwann hat man dann wohl aufgehört, es überhaupt in Betracht zu ziehen. Man hat sich damit abgefunden, dass man gewisse Menschen liebenswert oder sympathisch findet, er aber nicht zu diesen Menschen zählt. Die Abneigung, … Weiterlesen Die alte Kälte.

Berührend.

Es war einmal ein Mann, der musste die Frauen berühren. Nicht alle Frauen, nur solche, die ihm gefielen. Nicht immer, aber hin und wieder. Er wusste, dass man das eigentlich nicht macht. Aber er musste es tun. Er konnte nicht anders. Manchmal, da wehrte er sich, sträubte sich, bisweilen sogar mit Erfolg. Doch dann wieder … Weiterlesen Berührend.

Eine Weise.

Sie war die älteste Frau im Dorf. Vielleicht war sie ein Elefant, vielleicht ein Geist, vielleicht eine hölzerne Statue, vom Leben geschnitzt. Man wusste es nicht, und man fragte sie nicht. Stattdessen fragte man sie alles andere. Die Kinder fragten nach dem Blau des Himmels, nach dem Donner und dem Blitz, nach der Körpergröße der … Weiterlesen Eine Weise.