Als Frau Lehmann den Brief liest, vermag sie ihn zunächst gar nicht zu begreifen. Auf den ersten Zeilen steht in knappen Worten geschrieben, dass die Supermarktkette, für die Frau Lehmann arbeitet, sich in einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld bewege, sich konsequent um Effizienz bemühen und Optimierungspotenziale nutzen müsse. Einen Abschnitt weiter unten erklärt man ihr in ebenso knappen Worten, dass man das Arbeitsverhältnis mit ihr beenden müsse. Mit großem Bedauern. Immer wieder liest Frau Lehmann diese Worte, liest sie laut, wobei ihre Stimme zunächst irritiert, dann spöttisch und schließlich wütend klingt. Mit großem Bedauern. Frau Lehmann lacht bitter. Dann weint sie einige Minuten lang. Dann zerknüllt sie den Brief, wirft ihn in die Ecke. Dann geht sie zu Bett. Und kann nicht einschlafen.
Die folgenden zwei Tage hat sie frei. Als sie wieder an die Supermarktkasse zurückkehrt, sieht alles ein wenig anders aus als gewohnt. Sie kann sich nicht erklären, was sich konkret verändert hat. Doch schon das Hinsetzen auf den roten Polsterstuhl fühlt sich seltsam an, die Sitzfläche wirkt härter, die Rückenlehne seltsam starr. Sie fragt ihre Arbeitskollegin Tina, ob sie Post von der Firma erhalten habe, doch Tina schüttelt den Kopf, und ihre blonden Locken wackeln lustig, und Frau Lehmann versucht ein Lächeln, doch sie bringt keines zustande. Natürlich, denkt Frau Lehmann, Tina ist ja noch jung. Und hübsch. Die wirft man nicht raus. Frau Lehmann knabbert auf ihrer Unterlippe. Das tut sie sonst nie. Dann dreht sie den Schalter des Türsystems. Die ersten Kunden kommen in den Laden.
Frau Lehmann hat die Abläufe längst verinnerlicht, jede Bewegung ist automatisiert, sie arbeitet routiniert und schnell. Sie zieht einen Artikel nach dem anderen über das gläserne Feld mit dem Scanner, und nur, wenn der Strichcode nicht lesbar ist, gerät sie aus dem Rhythmus. Am heutigen Tag ist sie langsamer als sonst, ihre Hände wirken träge und stocken immer wieder mitten in der Bewegung. Den Kunden begegnet sie mit einer ungewohnten Reserviertheit. Wer Frau Lehmann nicht kennt, bemerkt nicht, dass sie sich anders verhält als sonst. Doch viele Kunden im Dorf kennen Frau Lehmann, und Frau Lehmann wiederum kennt viele Kunden beim Namen, selbst solche, die ihren Namen nie genannt haben. Als Frau Kohler fragt, wie es ihr gehe, antwortet Frau Lehmann noch mit einem gleichgültigen Gut. Während Herr Fernandez von seiner kranken Tochter erzählt, hört sie schweigend zu. Und als sich Frau da Silva besorgt zeigt und meint, dass sie nicht gut aussehe, gibt Frau Lehmann zurück, dass sie schlecht geschlafen habe. Dann jedoch kommt Frau Fischer, und bei Frau Fischer mag Frau Lehmann das Lügen nicht mehr gelingen.
Die haben mich einfach rausgeworfen, raunt Frau Lehmann leise und erschrickt über das Kratzen in ihrer Stimme. Wie einen alten Schuh oder eine Kerze, die zu Ende gebrannt ist. Frau Fischer lässt ihre Gesichtszüge entgleisen und reißt Mund und Augen auf. Warum denn?, fragt sie. Frau Lehmann zuckt mit den Schultern. Keine Ahnung. Die müssen wohl sparen. Und da schmeißt man halt zuerst die Alten raus. Frau Fischer murmelt, dass es ihr leidtut, und Frau Lehmann weiß nicht genau, was sie darauf erwidern soll.
Nach Frau Fischer kommen einige Leute zur Kasse, die Frau Lehmann noch nie gesehen hat. Dann taucht Frau Kuhn auf. Die ältere Dame ist eine bekannte Größe im Dorf, denn sie bringt nahezu jedes Gerücht, das irgendwo entsteht, zu voller Entfaltung. Ihre Schwatzhaftigkeit ist legendär, ihr Mundwerk ist eine unerbittliche Waffe, und obschon alle im Dorf wissen, wie redselig Frau Kuhn ist, und sie deswegen ein wenig fürchten, geraten sie dennoch ins ausufernde Lamentieren, wenn sie sich mit ihr unterhalten. Als Frau Kuhn ihre Einkäufe aufs Band legt, beginnt Frau Lehmann zu reden. Mit mir kann man es ja machen, sagt sie, und natürlich fragt Frau Kuhn nach, was man denn mit Frau Lehmann machen könne. Klar, die alte Schachtel kann man einfach so rauswerfen, knurrt Frau Lehmann und mag es, wie das Kratzen in ihrer Stimme immer giftiger klingt. Zunächst berichtet sie vom Brief, den sie bekommen hat, von der Ohnmacht, die sie verspürt, von jenem Gefühl der Orientierungslosigkeit, das sie taumeln lässt. Eigentlich könnte Frau Lehmann dann aufhören, denn es gibt nichts mehr zu erzählen, doch Frau Lehmann hört nicht auf. Sie hat gerade erst angefangen.
Frau Lehmann fabuliert von Maria, einer weiteren Mitarbeiterin. Die hat lange Finger, wenn Sie wissen, was ich meine, flüstert Frau Lehmann. Bei ihr stimmt immer wieder mal die Kasse nicht, und dann gleich um einen Hunderter. Der Horst im Lager sei ein Trinker, fährt Frau Lehmann fort, die Olga im Büro habe keine Ahnung von Zahlen, aber zumindest große Brüste, und dass Tina was mit dem Personalchef habe, sei ja bekannt. Frau Lehmann redet sich in Rage, und am Ende ihres Rundumschlags ist sie beinahe ein wenig müde, so sehr hat ihr Redeschwall sie gefordert. Frau Kuhn schaut entgeistert und nickt immer wieder, sagt aber kaum ein Wort, und nachdem sie bezahlt hat, verlässt sie den Supermarkt. Frau Lehmann sieht ihr nach und fragt sich, ob ihre Lippen nur beben, weil sie so rasend schnell gesprochen hat.
Am Ende des Arbeitstages kommt Frau Lehmann nach Hause, in diese Wohnung, in der sie sich doch eigentlich wohl und sicher fühlen sollte. Sie schaltet das Radio ein, setzt sich an den Tisch im kleinen Wohnzimmer und faltet die Hände. Sie sieht sich um, betrachtet das Bücherregal, in dem unzählige Dekorationsobjekte, aber fast keine Bücher stehen. Da sind Bilder an den Wänden, sie hängen dort schon seit langer Zeit, doch in jenem Moment kommt es Frau Lehmann so vor, als ob sie gerade erst aufgehängt worden wären, von einem Fremden ohne Sinn für Ästhetik. Während vor dem Fenster das Licht allmählich schwindet, beginnt Frau Lehmann, unsichtbare Waren von einem unsichtbaren Laufband zu nehmen und zu scannen, während sie sich mit unsichtbaren Kunden unterhält. Sie redet über das Wetter und einen Verkehrsunfall, der sich kürzlich ereignet hat, sie fragt, ob man das Geld auch kleiner habe, sie händigt Kassenbons aus und verabschiedet sich von allen Kunden mit einem Lächeln. Als alle gegangen sind, dreht sie den unsichtbaren Schalter des Türsystems auf Zu und legt die Hände in den Schoss. Sie ist wieder allein in dieser Wohnung, mit den merkwürdigen Bildern und der Stille, die auch die Musik aus dem Radio nicht aufzulösen vermag. Frau Lehmann schließt ihre Kasse ab, blickt sich noch einmal um fragt sich, wie das alles nun weitergehen soll.
Und eigentlich sollte diese Geschichte nicht hier enden, aber sie tut es, denn man kann sich nicht immer aussuchen, wie und wann eine Geschichte endet.

Nein, ich habe nicht geschmunzelt. Mir ging im Kopf herum, wievielen Frauen (natprlich auch Männern) das fast täglich passiert. Sie ist ja kein Einzelfall, Frau Lehmann, sie ist eine von vielen, die aus genau den o. a. Gründen entlassen werden.
Nicht jede kommt gut damit klar und für viele ist es der Weg in die Armut, es sei denn, es ist einer da, der auffangen kann, der einen Weg zeigt
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Nein, sie ist leider alles andere als ein Einzelfall, die Frau Lehmann, und nichts daran ist lustig; sollte es auch nicht sein. Häufig ist es ja nicht nur das Einkommen, das plötzlich wegfällt, sondern so viel mehr… Bleibt zu hoffen, dass sich möglichst vielen Menschen wie Frau Lehmann ein Weg öffnet und sie Unterstützung erfahren dürfen… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Der letzte Satz hat die Geschichte amüsant aufgelockert.
Nach der Story musste ich doch schmunzeln.
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Vielen lieben Dank dir, das freut mich sehr…
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