«Die Toilettenspülung ist wieder im Eimer.»
«Im Herren-WC?»
«Ja.»
«Blödes Ding.»
«Machst du es selbst?»
«Ja, kein Problem.»
«Vielleicht sollte sich mal ein Fachmann darum kümmern.»
«Ich sagte doch: Kein Problem.»
«Okay.»
Elena wendet sich ab, geht hinaus auf die Terrasse und zündet sich eine Zigarette an. Ihr Blick erfasst einen Mäusebussard, der über den nahen Felsen kreist. Sie lebt nun schon seit sechs Jahren hier oben, und jeden Tag sieht sie Mäusebussarde. Aber noch nie hat sie einen der Vögel dabei beobachtet, wie er sich senkrecht nach unten auf seine Beute stürzt. Vielleicht tun sie es gar nicht. Vielleicht ist dieses Gebaren nur ein Mythos. Doch wahrscheinlich müsste sie lediglich mehr Geduld aufbringen, müsste sich Zeit nehmen, um die Mäusebussarde wirklich zu beobachten. Sie tut es nicht, und darum bleibt ihr nur das Vertrauen. Das Vertrauen darauf, dass die Mäusebussarde tatsächlich tun, was man von ihnen behauptet. Das Vertrauen ist häufig die letzte oder die einzige Sache, die uns vor dem Abstürzen bewahrt, denkt Elena.
Vor ihr erstreckt sich eine karge Wiese, die nach etwa fünfzig Metern abrupt endet. Hinter diesem Ende fällt die Welt steil und unerbittlich ab, die schmale Felskante geht in ein kaltes Nichts über. Einmal ist dort ein alter Mann hinuntergestürzt, vielleicht freiwillig, vielleicht ungewollt, aber das war lange vor ihrer Zeit.
Seitdem sie mit Paul das Restaurant Bellavista übernommen hat, gleicht ihr Dasein dem Weg einer Glasmurmel in einer Kugelbahn. Sie rollt durch vorgegebene Bahnen, prallt stets gegen dieselben Wände, kommt unten an, bleibt kurz liegen und wird wieder nach oben befördert, um ein weiteres Mal hinunterzurollen. Sie hat längst vergessen, wie sie sich das Leben im Bellavista in den Monaten vor dem Umzug ausgemalt hatte. Sie weiß nur, dass die Realität ihren Vorstellungen lediglich in homöopathischen Dosen gerecht wurde. Elena hatte zu viel erwartet, das ist ihr längst klargeworden. Nicht ganz klar ist ihr, wie groß der Unterschied zwischen Erwartung und Tatsache sein darf, bevor man dem Verzagen zum Opfer fällt.
«Wolltest du nicht aufhören?», hört sie Paul fragen.
«Womit aufhören?», erwidert sie, ohne sich umzudrehen und obwohl sie weiß, was er meint.
«Du weißt, was ich meine.»
«Vielleicht wäre es gar keine gute Idee, mit dem Rauchen aufzuhören. An den Zigaretten kann ich mich wenigstens festhalten. Wenn ich mich nicht mehr festhalten kann, stürze ich den Abhang hinunter, wie der alte Mann damals.»
«Du hast ja mich», sagt Paul leise. Sie wendet sich doch noch zu ihm um, er steht rund drei Meter von ihr entfernt.
«Du bist zu weit weg.»
Zwei Jahre waren Paul und Elena ein Paar gewesen, als die Anfrage kam. Zunächst stemmte sie sich dagegen, mit großer Entschlossenheit. Sie fühlte sich nicht angezogen von den Bergen, hatte keine Sehnsucht nach Stille und Einsamkeit, auch war sie keine Gastronomin und wollte es auch nicht sein. Eigentlich sprach alles dagegen. Alles außer Paul. Für ihn ging mit der Möglichkeit, das Bellavista zu führen, ein Traum in Erfüllung. Elena hatte keine Träume, zumindest keine eigenen. Also schloss sie sich jenem von Paul an.
Beim ersten Besuch auf 1400 Metern über Meer konnte sie Pauls Begeisterung zwar nicht uneingeschränkt teilen, aber durchaus nachvollziehen. Das Restaurant lag wie hingemalt auf einer schmalen Ebene zwischen Felswand und Abgrund. Vor der Terrasse erstreckte sich das Gebirge, weiter hinten sah man den See und vereinzelte Kleinstädte, und alles wirkte so winzig und unwichtig, beinahe wie eine Spielzeugwelt, voller Unschuld und Schlichtheit. Sie ging damals nach vorne zum Abgrund und blickte hinaus. Paul trat zu ihr hin, umarmte sie von hinten, und einen Moment lang fühlte sie sich vollkommen sicher und ruhig, glaubte sich genau am richtigen Ort. Doch dieser Moment ging vorüber. Und das Gefühl entglitt ihr.
«Sie ist so groß, die Welt.»
«Ja, natürlich ist sie groß», erwidert Paul. Seine Stimme verrät, dass er nicht weiß, wovon sie redet, und ihre Erfahrung sagt ihr, dass er es auch gar nicht wissen will.
«Nur schon der kleine Teil der Welt, den man von hier aus sehen kann, ist unermesslich groß. Und den größten Teil der Welt sieht man ja gar nicht von hier aus.»
«An den meisten anderen Punkten dieser Welt sieht man weniger von der Welt als hier.»
«Darum geht es doch gar nicht.»
«Worum geht es denn?», fragt Paul, und dieses Mal klingt die Stimme beinahe so, als ob ehrliches Interesse in ihr wohnen würde.
«Da ist noch so viel da draußen. So viel zu entdecken. So viel zu erleben. Wir hocken hier oben, dabei spielt das ganze Leben dort unten.» Sie wedelt mit der Hand, zeigt hinaus auf den See, doch Paul blickt in eine andere Richtung.
«Dieses Gespräch hatten wir doch schon mal. Mehrere Male.»
«Es ist nicht das Einzige, das sich offenbar ständig wiederholt.»
Kurze Zeit später sieht sie Paul mit seinem Werkzeugkoffer zu den Toiletten gehen. An dieser Stelle hätte sie früher wohl milde gelächelt, hätte ihm nachgeschaut und den Kopf leicht geneigt. Heute schüttelt sie ihn lediglich kurz, lässt die Augen rollen und wendet sich ab. Mit zaghaften Schritten nähert sich Elena der Felskante. Als sie den Abgrund erreicht, bleibt sie stehen. Sie stellt sich vor, ihr Kopf sei eine Videokamera und ihr Körper ein Stativ. In einer langsamen und stetigen Schwenkbewegung fängt sie das Panorama ein, bannt es auf Film, konserviert es. Sie sieht sich nach dem Mäusebussard um, will auch ihn mit ihrer Kamera festhalten, doch sie findet ihn nicht, ihr Blick verliert sich im hellen Blau des Himmels.
Elena setzt sich auf den Boden, lässt die Beine über die Felskante hängen, legt die Handflächen auf das kühle Gestein. Sie stellt sich vor, wie die unstillbare Energie des Felsens in ihren Körper fließt, sich mit ihm verbindet. Sie fühlt sich durchdrungen, fühlt sich wie ein Speicher, der allmählich wieder gefüllt wird. Elena öffnet die Augen ganz weit, gerade so, als wolle sie möglichst viel von der Welt vor ihr in sich aufnehmen.
«Die Zeit ist ein flüssiges Gut», sagt sie, obwohl ihr niemand zuhört, nicht einmal ein Mäusebussard. «Wenn es zerrinnt, bleibt eine Leere zurück.» Ihre Stimme klingt überraschend laut, doch sie verliert sich im Abgrund unter ihr, wird verschluckt. Sie könnte schreien, könnte brüllen, doch es würde sich nichts ändern.
Vom Haus hört sie das Knallen einer Tür, dann die schweren Schritte auf der Terrasse.
«Die Spülung funktioniert wieder», ruft Paul ihr zu. Sie erwidert nichts und wartet darauf, dass er näherkommt, doch das tut er nicht. Als sie sich umdreht, ist er nicht mehr zu sehen.
Nachdem sie aufgestanden ist, verharrt sie noch einen Moment lang an der Felskante, blickt noch einmal hinaus. Würde sie eine Glasmurmel hinabrollen lassen, würde sie stetig an Geschwindigkeit gewinnen, würde zu einem Geschoss werden, das sich unerbittlich einen Weg ins Tal sucht, bis es irgendwo aufprallt und zerschellt.
«Die Schwerkraft ist unerbittlich», sagt Elena, als sie ins Haus zurückgegangen ist und Paul begegnet.
«Wie meinst du das?», fragt er, doch seine Stimme verrät, dass er ein weiteres Mal gar nicht wissen will, wovon sie redet.
«Es ist nichts. Vergiss es einfach. Es ist nichts.»

Ist das Absicht, dass Paul irgendwann Emil heißt?
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Nö, das ist ein Fehler, oder war einer, denn jetzt ist’s nicht mehr so… Danke dir!
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🙂
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