Beim Aufräumen des Kellers gerät Eva ein Foto zwischen die Finger. Es zeigt sie als kleines Mädchen im Wohnzimmer ihres Elternhauses. Der Teppich ist grau, er weckt Erinnerungen, sie weiß noch immer, wie er sich anfühlte unter den Handflächen. Im Hintergrund sieht man eine alte Anrichte mit Glaseinsätzen in den Schranktüren. Einmal zerbrach eine dieser Glasscheiben, als Evas Bruder im Wohnzimmer mit einem Ball spielte. Die Eltern haben das zerbrochene Glas danach nie ersetzt, die Schranktür wurde zu einem Rahmen für das Geschirr, dass im Innern aufgestapelt war. Auf dem Bild ist die Scheibe jedoch noch heil.
Das kleine Mädchen auf dem Foto macht einen Spagat. Je länger Eva das Bild betrachtet, desto grotesker wirkt es; ihr gerader Rücken, die blonden Haare, die beiden Beine, die in entgegengesetzter Richtung aus ihrem Rumpf ragen. Ihr Körper war damals noch so klein und beweglich, so formbar. Es sind ihre eigenen Augen, die Eva vor sich sieht, ihre Nase, ihre Wangen, doch es ist kein Spiegelbild, da ist höchstens ein Erahnen, kein Erkennen. Das Gesicht des kleinen Mädchens, es ist vollständig in unbändigen Stolz gehüllt, es erzählt von einem Triumph, der zumindest in jenem Moment wichtiger schien als alles andere. Eva fragt sich, was mit dem Mädchen auf dem Foto geschehen ist, wo und wann es verschwand. Dann fragt sie sich, ob sie wohl immer noch in der Lage wäre, einen Spagat zu machen.
Im Wohnzimmer setzt sie sich auf den Parkettboden und spreizt die Beine ein wenig, doch allzu schnell spürt sie einen Widerstand, der sie verharren lässt. Bei der Vorstellung, den Spagat zu machen, kriecht ihr die Angst in den Körper. Sie erinnert sich an den Dammriss bei der Geburt ihres ersten Kindes, sie denkt an den schrecklichen Unfall von Gernot Reinstadler beim Skirennen am Lauberhorn. Trotzdem beschließt sie, den Spagat zu üben, immer wieder, so lange, bis er wieder gelingt.
Ihre beiden Söhne interessieren sich nicht für den Spagat. Als Eva beim Abendessen von ihrem Vorhaben erzählt, zucken sie nur mit den Schultern und essen weiter. Ihr Mann reagiert mit einem Lächeln, doch es steckt keine Aufmunterung darin, sondern eine Mischung aus Unverständnis und leisem Spott, findet Eva. Später fragt er, ob das mit dem Spagat ihr Ernst sei, und als sie nickt, sagt er, dass sie es halt machen solle, wenn sie das Gefühl habe, dass sie es machen müsse. Sein Desinteresse kränkt Eva nur kurz, sie hat nichts anderes von ihm erwartet, und womöglich hat er ja Recht, womöglich ist es eine unsinnige Idee. Aber Eva übt den Spagat dennoch, jeden Tag, wenn ihr Mann im Büro ist und die Kinder in der Schule sind. Als sie erste Fortschritte erkennt, weitet sie das Training aus, dehnt ihre Muskeln, kauft sich sogar ein Buch über den Spagat. Sie übt nun auch, wenn sie nicht allein ist, ignoriert das Kopfschütteln ihres Mannes, und selbst während des Strandurlaubs lässt sie nicht davon ab.
Schließlich gelingt ihr der Spagat in jener Perfektion, die sie zu erreichen wünschte. Mühelos spreizt sie ihre Beine und gleitet zu Boden, hat ihren Körper vollkommen unter Kontrolle. Einen Moment lang droht sie zu zerplatzen, so heftig breitet sich die Freude in ihrem Brustkorb aus. Sie holt ihre Kamera, stellt sie vor sich hin, gleitet erneut in den Spagat und macht ein Foto mit Selbstauslöser. Eva schiebt die Speicherkarte in den Computer und öffnet die Datei.
Ihre Haltung ist tatsächlich außergewöhnlich. Nichts deutet darauf hin, dass ihr der Spagat Mühe bereiten könnte, und Eva ist überrascht, wie natürlich und elegant ihr Körper wirkt. Doch als ihr Blick auf ihr Gesicht trifft, hält sie inne. Es sind ihre eigenen Augen, die Eva vor sich sieht, ihre Nase, ihre Wangen, doch nichts daran erinnert an das kleine Mädchen auf dem Foto, das sie im Keller gefunden hat und das nun vor ihr neben der Computertastatur liegt. Der Spagat ist perfekt, aber den Stolz von damals hat sie offenbar nicht ins Heute retten können. Und während sie abwechselnd auf das Foto in ihrer Hand und auf das Bild auf dem Computermonitor starrt, fragt sich Eva, was sonst noch auf der Strecke geblieben ist.

ach, das ist aber mal wieder ein wirklich schöner Text!!!
Vielen Dank dafür.
Liebe Grüße
Ryka
LikeGefällt 1 Person
Und das ist mal wieder ein wirklich schöner Kommentar!
Herzlichen Dank dir und liebe Grüsse zurück…
LikeLike