Zum Programmkino gehört eine kleine Bar mit überschaubarem Angebot und einigen Tischen. Auf dem Tresen liegen Prospekte und Karten von Filmen, und dahinter steht eine Frau mit müden Augen. Wenn sie fragt, was man trinken will, klingt ihre Stimme warm und freundlich, und man bestellt ein Glas Wein, obwohl man sich doch eigentlich auf ein Mineralwasser hatte beschränken wollen. An einer Seitenwand hängen Filmplakate, und eines dieser Plakate enthält lediglich asiatische Schriftzeichen. Eine junge Frau ist abgebildet, sie weint, ihr Blick ist leer. Man würde gerne wissen, warum sie traurig ist, doch man kann die asiatischen Schriftzeichen nicht lesen, darum fehlen jegliche Anhaltspunkte. Man kann nur mutmaßen.
Der nächste Film beginnt erst in zwei Stunden, und da sind kaum Gäste in der kleinen Bar. An einem der Tische sitzt ein älteres Paar. Sie sind so gekleidet, dass man auf den ersten Blick bemerkt, welche Partei sie wählen und dass sie sich für Kunst und Kultur interessieren und ihre Kleidung mit Bio-Waschmittel waschen oder sogar vollständig auf Waschmittel verzichten, vielleicht benutzen sie Kastanien oder diese seltsamen Waschkugeln. Sie sahen wohl schon alt aus, als sie noch jung waren, und jetzt sind sie tatsächlich alt, aber manchmal fühlen sie sich wie damals, das Sofa zu Hause ist alt und unbequem, aber vertraut und gewohnt, sie sitzen gern auf diesem Sofa, doch ebenso gern gehen sie auch raus, hinaus ins Leben, und heute sitzen an diesem Tisch in der Bar des Programmkinos, reden so leise, dass niemand sie hört.
Da sitzt noch ein anderer Gast an einem Tisch, eine Frau, auch sie schon älter, vielleicht fünfundsechzig Jahre alt. Sie ist elegant gekleidet, kauft ihre Röcke und Mäntel offensichtlich in einer jener Boutiquen in der Stadt, in denen fast nie Kunden zu sehen sind und man sich fragt, wie sie überhaupt fortbestehen können. Die Frau, sie sieht ähnlich aus wie jemand, den man kennt, aber man kennt sie nicht, diese Frau, sie ist eine Fremde, doch wahrscheinlich bleiben auch Menschen, die man kennt, in gewisser Hinsicht Fremde. Und weil man nichts anderes zu tun hat, erdenkt man sich eine Biografie, skizziert ein Leben, das Leben einer Frau, die in der Bar des Programmkinos sitzt und eine Zeitung liest und hin und wieder an einem Glas Rotwein nippt.
Man nennt sie Gloria, weil dieser Name auch auf einem der Filmplakate zu lesen ist. Gloria war einst verheiratet, doch jene Zeit, sie liegt weit hinter ihr, diese Zeit, sie gehört zu einem anderen Leben, und jenes Leben ist längst abgeschlossen, wahrlich zu Ende gelebt. Danach kam keine Neugeburt, sondern eine Art des Weitermachens, die manchmal einfach und manchmal schwierig war. Der Ex-Mann ist heute mit einer jüngeren Frau zusammen, und gelegentlich sieht sie ihn und fragt ihn, ob er denn jetzt glücklich sei. Er verneint meistens, und das erfüllt Gloria mit einer gewissen Genugtuung, die sie aber für sich behält.
Den Mann, mit dem sie sich hier im Kino verabredet hat, kennt sie erst seit kurzer Zeit. Es ist ihr drittes Date, obwohl Gloria nicht von Date spricht, sondern von Treffen. Das erste Treffen wurde von einem gemeinsamen Bekannten eingefädelt. Sie waren ein wenig unsicher, standen beide wohl ziemlich wacklig auf den Beinen, wenn es um derartige Angelegenheiten ging, doch jenes erste Zusammensein war durchaus sehr schön, seltsam erfüllend und unbeschwert, fand Gloria. Beim zweiten Treffen lagen sie am späten Abend nebeneinander im Bett und redeten lange Zeit, zunächst über Nichtigkeiten, dann über Essenzielles, vor allem aber über die Dinge dazwischen, und wenn sie nicht redeten, dann schwiegen sie, ohne dass Gloria den Eindruck hatte, dass jenen Momenten die Worte fehlten. Sie dachte damals, dass sie doch eigentlich zu alt sei, um beim zweiten Treffen mit einem Mann bereits mit ihm ins Bett zu gehen, doch bei jedem weiteren Treffen wäre sie ja nur noch älter gewesen, und es war schön, dort zu liegen. Als er einschlief, schnarchte er, erst ganz leise, dann ohrenbetäubend laut, also ging sie ins Wohnzimmer, legte sich auf die Couch und hörte ihm von dort aus beim Schlafen zu.
Er hat sich verspätet, und Gloria mag das nicht. Kann sein, dass andere einen leichtfertigeren Umgang mit der Zeit pflegen, doch Gloria braucht diesbezüglich eine gewisse Verbindlichkeit, sie braucht Daten und Uhrzeiten, um sich daran festhalten zu können. Während sie wartet, liest sie eine Zeitung. Am Anfang blättert sie lediglich die Seiten um und überfliegt die Artikel, doch als der Mann noch immer nicht eingetroffen ist, beginnt sie, die Beiträge auch tatsächlich zu lesen, zuerst jene, die sie interessieren, dann auch solche, denen sie eigentlich nicht viel abgewinnen kann. Allmählich schleicht sich eine ungewohnte Nervosität in ihren Körper, Gloria blickt wiederholt auf und sieht sich um. Sie liest einige der Artikel ein zweites Mal, einen davon sogar ein drittes Mal, gerade so, als könnten die Texte darüber hinwegtäuschen, dass der Mann noch immer nicht erschienen ist.
Das Foyer füllt sich allmählich, der Geräuschpegel schwillt an, und als alle Besucherinnen und Besucher bereits den Kinosaal betreten haben, steht auch Gloria auf, bezahlt hastig ihren Rotwein und geht ebenfalls hinein in den mittlerweile abgedunkelten Saal. Die Vorstellung beginnt, und draußen putzt die Frau an der Bar die Theke, spült einige Gläser und legt die Prospekte und Postkarten wieder geordnet aus. Sie summt vor sich hin, ganz leise, aber laut genug, um die Stille aufzulösen.
Als der Film zu Ende ist, verlassen die Besucherinnen und Besucher den Kinosaal. Mit langsamen Schritten gehen sie in Richtung Ausgang, ihre Gesichter wirken zufrieden und erfüllt, der Film war offensichtlich gut, er hat Eindruck hinterlassen. Man wartet auf Gloria, doch Gloria kommt nicht, sie tritt nicht durch die geöffnete Tür des Kinosaals. Man harrt aus, den Blick auf den Saalausgang gerichtet, doch Gloria lässt sich nicht blicken. Vielleicht ist sie noch immer im Kinosaal. Vielleicht ist sie auch längst an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. Die Frau hinter dem Tresen fragt, ob man noch etwas trinken wolle. Ihre Stimme klingt warm und freundlich, und man bestellt ein Glas Wein, obwohl man sich doch eigentlich auf ein Mineralwasser hatte beschränken wollen.

sehr schön…die stimmung kommt gut rüber und man fragt sich unwillkürlich, wie viele von diesen glorias es wohl noch so gibt… wahrscheinlich eine ganze menge.
ich lese deine kurzprosastücke sehr gern!
herzliche grüße von diana
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte… Jaha, es gibt wohl eine Menge solcher Glorias, nicht nur in Bars von Programmkinos…
Herzliche Grüsse zurück!
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Bestellt und nicht abgeholt … fataler Beginn einer Hätte-sein-können-Beziehung. Schade für die Frau, die schon sein Schnarchen so gut ertrug…
Herzlichen Dank für deine feinen Worte, lieber Disputnik, immer und immer wieder, schön ist das!
Liebe Mittagsgrüße vom Finbar
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Vielen herzlichen Dank DIR, lieber Finbar, fürs Lesen und für deine Worte! (Immer und immer wieder schön ist das und sind die!)
Liebe Grüsse zurück!
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Dankeschön *freu*
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