Wurst.

Der kleine Vogel war wohl aus dem Nest gefallen. Er lag unter einem Baum auf dem Asphalt und zitterte, konnte sich kaum bewegen. Sie kniete sich neben ihn hin, redete auf ihn ein, doch Worte konnten den Vogel nicht retten, das wusste sie. Also nahm sie ihn hoch und trug ihn nach Hause, baute ihm … Weiterlesen Wurst.

Delirium.

Eva erschrickt, als es kurz nach dem Eintreten hell wird im Flur. Die Wohnung der alten Anna ist generell schlecht beleuchtet, doch der Eingangsbereich ist zweifellos die dunkelste Stelle von allen, zumindest bis anhin. Jetzt hängt da eine kleine Lampe an der Wand, wahrscheinlich batteriebetrieben, eine kleine Kunststoffkugel lässt auf einen Bewegungsmelder schließen, was wiederum … Weiterlesen Delirium.

Warmwasser.

Der Tag hängt stumm in den Räumen. Vor den Fenstern lässt der hellgraue Himmel die Landschaft matt und bleich wirken, wie eine altes Foto in ungesättigten Farben. Sie lauscht der Stille, fügt sich in das Schweigen, und als sie sich räuspert, zuckt sie erschrocken zusammen, so laut und grob dringt das Geräusch aus ihrer Kehle … Weiterlesen Warmwasser.

Wie es ist.

Es ist, wie es ist, sagt der alte Mann und faltet die Hände; er hat noch nie gebetet und wird jetzt nicht mehr damit anfangen. Er sitzt in seinem Sessel und lässt die Schultern hängen. Schräg vor ihm steht das Sofa, auf dem schon lange niemand mehr sass, und unter dem Sofa bemerkt er den … Weiterlesen Wie es ist.

Blumenmädchen.

Das Mädchen hält die Blumen in der Hand und die Hand ins Wasser. Wo es auch geht und steht, wohin es sich auch verirrt und treiben lässt, es hält die Blumen ins Wasser; an kleinen Seen und unentwegt zerrenden Flüssen, an gurgelnden Bächen, an jedem Brunnen. Es hat die Blumen nicht gepflückt, hat die Stiele … Weiterlesen Blumenmädchen.

Zwei schweigen.

Am Straßenrand hängt ein junger Mann an einem Kreuz, die Arme ausgebreitet, den Kopf leicht abgewinkelt. An den Handflächen ist das Blut eingetrocknet, dunkle Flecken umranden die Stellen, an denen man ihm die Nägel durch das Fleisch getrieben hat. Sein Gesicht sieht traurig aus. Sie steigt von ihrem Fahrrad, lehnt es an die Leitplanke und … Weiterlesen Zwei schweigen.

Placido Domingo.

Der alte Mann hört im Radio, dass Placido Domingo Frauen belästigt haben soll, und er kennt Placido Domingo eigentlich nicht, er kennt Placido Domingo nur von seiner Frau, denn sie mochte Placido Domingo, mochte seine Stimme, hörte ihn häufig singen, und der alte Mann konnte mit diesen Klängen nie viel anfangen, doch sie vertrieben zumindest … Weiterlesen Placido Domingo.

Eine kleine Geschichte (#4).

Diese Geschichte, sie handelt von Johanna, einer Frau, die viele Dinge wusste, und die meisten dieser vielen Dinge, die sie wusste, hatte sie von ihrem Vater gelernt. Nachdem ihre Mutter sich in einen irischen Straßenmusiker verliebt und das Weite gesucht hatte, waren Johanna und ihr Vater die kleinste Variante einer Familie geworden, und obwohl sich … Weiterlesen Eine kleine Geschichte (#4).

Hitler töten.

Mindestens einmal pro Woche fährt Anja ans Meer. Obwohl, sie fährt nicht wirklich, der Weg ist nicht das Ziel, der Weg spielt keine Rolle. Sie ist einfach da, am Meer, ganz allein, die Luft ist salzig, der Horizont ist leicht gewölbt. Sie kann entscheiden, welche Stelle sie aufsucht, sie kann wählen, ob sie im Sand … Weiterlesen Hitler töten.

Bambi.

Sie steht früh auf, noch bevor der Tag erwacht, denn jeder Sonnenaufgang ist ein Versprechen, und sie kann solche Versprechen gut gebrauchen, daran kann sie sich halten, zumindest so lange, bis sie loslassen muss. Sie macht einen Spaziergang, saugt die frische Morgenluft in ihre Lunge und bläst hinaus, was davon übrigbleibt. Auf einer Wiese am … Weiterlesen Bambi.

Rado.

Leon hat seine Armbanduhr verloren und zugleich die Liebe gefunden. Ein guter Handel, findet er, obschon er sich durchaus der Tatsache bewusst ist, dass es eine wunderbare Uhr war, eine Rado, Schweizer Qualitätsarbeit, robust und mit präzisem Uhrwerk. Leon mochte die Datumsanzeige sehr, die Ziffern waren beinahe quadratisch, mit abgerundeten Ecken. Die Uhr hatte ihn … Weiterlesen Rado.

Leserbrief an den Stadtanzeiger.

Normalerweise schreibe ich keine Leserbriefe. In meinen Augen sind Leserbriefe oftmals nichts anderes als ein Aufplustern. Irgendein Gockel krächzt gar klagend, welches Unrecht ihm oder seinesgleichen widerfahren ist oder welche Entbehrung er zu erleiden hatte, stellt seine Federn auf, obwohl er weiß, dass sich nichts ändern wird. Das widerstrebt mir, ich finde es befremdlich. Und … Weiterlesen Leserbrief an den Stadtanzeiger.

Gehen und bleiben.

Da ist ein Totenkopf, auf einem Bild an einer Wand, da ist dieses knöcherne Etwas, das früher zu einem Menschen gehörte, zu einem Leben, zu tausend Gedanken und tausend Erinnerungen, und man fragt sich, was bleibt, wenn ein Mensch geht. Man fragt sich, wie viel von einem Menschen stirbt und ob etwas weiterlebt und wie … Weiterlesen Gehen und bleiben.

Die Mütze im Fluss.

Er ist acht Jahre alt, als ihm ein älterer Junge die Mütze vom Kopf reißt und sie in den nahen Fluss wirft. Er wird wütend und traurig zugleich, verflucht den Jungen und wünscht ihm alles Schlimme, beginnt zu weinen und rennt nach Hause. Sechzehn Jahre später hört er zufällig, dass der besagte Junge bei einem … Weiterlesen Die Mütze im Fluss.

Kaputt.

Ein Mann erzählt, wie sein Vater starb. Er ist verreckt, sagt er. Erbärmlich verreckt. Am Ende war er nur noch Haut und Knochen, nur noch Haut und Knochen. Ganz bleich, die Haut wie Papier, oder nein, wie Gips. Als er endlich starb, war er schon lange nicht mehr am Leben. Er redet über den Vater … Weiterlesen Kaputt.

Hinter dem Haus.

Er ist wohl gar nicht so alt, wie man im ersten Moment vermuten mag, vielleicht ist er fünfzig, womöglich sogar jünger. Doch er wirkt alt, alles an ihm gemahnt an die Unerbittlichkeit der Zeit, und wäre er ein Haus, würde der Wind durch die Löcher in seinen dünnen und brüchigen Wänden pfeifen. Natürlich fragt man … Weiterlesen Hinter dem Haus.

Ein Leben.

Bei deiner Geburt ist die Nabelschnur eng um deinen Hals gebunden, wie ein dünner Schal oder ein Krawatte, wie ein Tau, und als du zur Welt kommst, tust du es ganz still und dunkelrot, nahezu blau, und eigentlich könnte dein Leben enden, bevor es beginnt, doch der Arzt gibt sein Bestes und sein Bestes ist … Weiterlesen Ein Leben.

Spurlos.

Mitten in der Nacht wacht sie auf, gerät in einen Dämmerzustand und hat das Gefühl, dass jemand neben ihr liege. Es ist nicht unangenehm, dieses Gefühl, doch als sie realisiert, dass es eigentlich gar nicht möglich ist, dass jemand bei ihr im Raum ist, zuckt sie zusammen und reißt die Augen auf. Sie blinzelt in … Weiterlesen Spurlos.