Normalerweise schreibe ich keine Leserbriefe. In meinen Augen sind Leserbriefe oftmals nichts anderes als ein Aufplustern. Irgendein Gockel krächzt gar klagend, welches Unrecht ihm oder seinesgleichen widerfahren ist oder welche Entbehrung er zu erleiden hatte, stellt seine Federn auf, obwohl er weiß, dass sich nichts ändern wird. Das widerstrebt mir, ich finde es befremdlich. Und doch schreibe ich, hier und jetzt, diesen Leserbrief. Obwohl, schon die Bezeichnung ist eine Lüge. Um einen Leserbrief zu schreiben, müsste ich Leser sein, doch das bin ich nicht, zumindest noch nicht. Aber vielleicht sollte ich einfach damit anfangen, meine Geschichte zu erzählen.
Es geht um einen Baum. Nein, nicht nur um einen Baum. Es geht um eine Frau. Es geht um die Liebe. Das ist groß. Das ist fast so groß wie Leben und Tod. Um Leben und Tod geht es auch. Eigentlich geht es um alles.
Der Baum ist eine Eiche. Oder er war eine Eiche. Denn die Eiche gibt es nicht mehr. Sie wurde gefällt. Darum schreibe ich diesen Brief.
Die Eiche stand im kleinen Park beim Höllbrunnen. Ich weiß nicht, warum er Höllbrunnen heißt, das ist ein schrecklicher Name. Die Eiche jedoch, sie war wunderschön, hoch und breit, weit verzweigt und knorrig. Ein Baum mit Charakter. Eine Stadt braucht solche Bäume, vor allem eine kleine Stadt wie diese.
Der Baum war jedoch nicht nur deshalb außergewöhnlich, weil er Charakter hatte. Unter diesem Baum habe ich Anna zum ersten Mal geküsst. Anna. Der Name ist so beliebig, so alltäglich. Anna war nicht beliebig, sie war nicht alltäglich. Sie war nicht einmal etwas Besonderes. Sie war mehr als das. Manche Menschen verlieben sich immer wieder, jedes Jahr, jeden Tag. Ich nicht. Ich habe mich nur ein einziges Mal verliebt; ich habe nur ein einziges Mal geliebt. Anna.
Als ich Anna traf, war es nicht so, als wäre ich vom Blitz getroffen worden, es war keine Liebe auf den ersten Blick. Man kann beim ersten Blick gar nicht so genau hinschauen, um erkennen zu können, ob es Liebe ist oder sein könnte. Anna und ich hatten gemeinsame Bekannte, und nachdem wir uns einige Male begegnet waren, begannen unsere Gespräche an Tiefe zu gewinnen. Irgendwann verabredeten wir uns, um gemeinsam die Vernissage einer Ausstellung zu besuchen. Ich habe keine große Ahnung von Kunst, doch Anna hatte ein Leuchten in den Augen, als sie von der Künstlerin erzählte, also gingen wir hin. Die Vernissage war jedoch schrecklich langweilig, und nach der dritten Ansprache schlichen Anna und ich uns aus der Galerie. Wir tranken Wein in einer Bar, und schließlich setzten wir uns auf die Holzbank unter der Eiche beim Höllbrunnen. Es war eine warme Nacht. Bei einer nahen Laterne schwirrten Nachtfalter mit unstillbarem Eifer um das schwache Licht, als wäre es alles, was zählt. Anna und ich redeten. Ich glaube, dass ein Gespräch mitunter intimer sein kann als alles andere, intimer als ein Kuss, intimer als Sex. Dort unter der Eiche war es eines dieser Gespräche. Dort unter der Eiche wurde mir bewusst, was Liebe bedeutet. Wie sie sich anfühlt. Wie sie klingt. Wie sie schmeckt. Dort unter der Eiche küsste ich Anna zum ersten Mal. In den folgenden Tagen küssten wir uns erneut, wir schliefen sogar miteinander, doch nichts war so aufwühlend und ergreifend wie der Kuss unter der Eiche.
Wenn wir glücklich bis an unser Lebensende gelebt hätten, würde ich diesen Leserbrief wohl nicht schreiben. Ich kann nur hoffen, dass zumindest Anna bis an ihr Lebensende glücklich war. Nach ihrem Lebensende war eigentlich auch mein Leben zu Ende. Aber ich bin immer noch da.
Ich mag nicht darüber schreiben, wie Anna gehen musste. Sie musste jedenfalls viel zu früh gehen, weil ein Arschloch zu schnell fuhr und nicht mehr bremsen konnte. Die Eiche war alles, was mir blieb von ihr. Ich war der Nachtfalter, der auch noch um die Laterne flog, als das Licht längst erloschen war. Immer wieder prallte ich gegen die Realität und konnte dennoch nicht davon ablassen. Immer wieder ging ich zur alten Eiche, setzte mich auf die Holzbank und ließ die Zeit an mir vorüberziehen.
Und dann, vor einigen Tagen, war die Eiche plötzlich nicht mehr da. Jemand hat sie gefällt, ich nehme an, es war die Stadtverwaltung. Wahrscheinlich waren es sehr freundliche Männer, die mit viel Eifer und der gebotenen Vorsicht am Werk waren. Wahrscheinlich gab es gute Gründe, den Baum zu fällen. Vielleicht war die Eiche krank. Vielleicht war sie gefährlich. Vielleicht war sie nur im Weg. Es ist eigentlich egal. Wer auch immer den Auftrag gab, die Eiche zu fällen, zerstörte damit das einzig Greifbare, das mir von Anna blieb. Nun habe ich nur noch die Erinnerung. Die Erinnerung ist bisweilen ein wankelmütiges und unberechenbares Biest.
Ich habe der Stadtverwaltung geschrieben, wollte wissen, warum die Eiche gefällt und wo sie hingebracht wurde, doch ich erhielt keine Antwort. Darum stelle ich die Fragen an dieser Stelle noch einmal. Obwohl ich weiß, dass mir die Antworten nicht helfen könnten. Vielleicht brauche ich einfach einen Ort, um meine Traurigkeit abzuladen. Beim Höllbrunnen hat sie keinen Platz mehr.
Christoph M.

Der bewegendste Leserbrief, den ich je gelesen habe, aber es war ja eigentlich keiner, doch es hätte einer sein können – der schönste von allen.
Es ist der einzig richtige Ort für die Traurigkeit, der nun fehlt, lieber Disputnik,
an dem wir uns *festhalten* können.
Die Eiche war vermutlich krank, so will ich es mal annehmen,
aber Annas Tod kam anders und das bringt alles durcheinander
Ein wundervoller Satz
*Ich war der Nachtfalter, der auch noch um die Laterne flog,
als das Licht längst erloschen war*
Lieber Gruß von Bruni
LikeGefällt 1 Person
Liebe Bruni, das freut mich sehr, dass dir der Leserbrief zusagt… Und ja, vielleicht halten wir uns bisweilen an Dinge, weil sich Gefühle und Empfindungen nur schlecht greifen lassen…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
Herzliche Grüsse zurück!
LikeGefällt 1 Person
Ich habe zwar keinen Baum, der Geschichten von mir bewahrt und schon gar keinen, der ein eingeschnitztes Herz mit Pfeil hat – aber die Geschichte mit diesem leichten Sonderling geht mir sehr ans Herz.
LikeGefällt 1 Person
Das freut mich sehr! Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
Herzliche Grüsse…
LikeLike
Herzzerreissend. Es ist immer traurig, wenn ein Baum gefällt wird, aus welchen Gründen auch immer. Aber hier bricht es einem wirklich fast das Herz. Alles Gute Dir und viel Kraft für die Zukunft.
LikeLike
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Herzliche Grüsse…
LikeLike
Hast mich wieder aufzuplustern geschafft. Alexandra klagt im Morgenrot: Mein Freund,der Baum, ist tot.
Ja, Bäume sind Bewahrer vieler Geschichten und diese hier packt mir ans Herz, weil sie so wahr und richtig klingt wie es falsch und schräg klingt, wenn Motorsägen sich in einen Stamm fräsen und den Geschichten ihr Licht ausblasen. Nur das ewige Licht trägt sie weiter wie Federn im Wind, wie nach einem Aufplustern und Schütteln nach dem Lesens eines Leserbriefes, der weniger plusterte als eher schüttelte und der an den Unerklärlichkeiten hinter den geschlossenen Türen des Lebens zumindest tüchtig mal rüttelte.
Dank und Gruß von der Fee🧚♀️✨
LikeGefällt 1 Person
Oh ja, Bäume sind Bewahrer von Geschichten, all die Jahre in den Ringen, die Inschriften in den Rinden… Freut mich sehr, dass dir diese Geschichte bis ins Herz ging! Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für die wunderbaren Worte!
Herzliche Grüsse zurück
LikeGefällt 1 Person
😢 Traurig! 🙏
LikeLike
Oh ja… Vielen lieben Dank fürs Lesen!
LikeGefällt 1 Person