Sie trafen sich in einem Pub in London. Er weiß nicht mehr, wie es hieß, doch er redet sich ein, dass man das Pub Destiny nannte, Schicksal. Er redet sich vieles ein. Manchmal schnüffelt er an seinem Unterarm und will sich davon überzeugen, dass er dabei winzig kleine Partikel von ihr einatmet, die dem Wind der Zeit hatten standhalten können. Bisweilen belächelt er sich in solchen Momenten, findet sich selbst töricht und lächerlich. Doch häufiger klammert er sich an derartige Gedanken, wie ein Ertrinkender auf dem weiten Meer, der sich an einen aufblasbaren Schwimmring mit einem aufgedruckten Einhorn klammert.
Eefje stammte aus Belgien, und wie David verbrachte auch sie einen Sprachaufenthalt in London, wenn auch in einer anderen Schule in einem anderen Stadtteil. Eefje war in einer Art Wohnheim einquartiert, während David in einem Hotelzimmer wohnte, das ihm sein unanständig reicher Vater finanzierte, was jenen wohl davon befreite, ihm auf eine andere Weise Liebe oder Zuneigung zukommen lassen zu müssen. Eefje fühlte sich im Wohnheim nicht sonderlich wohl und übernachtete entsprechend häufig bei David im Hotel.
Schon nach dem ersten Abend im Pub war sie mit ihm mitgekommen. Sie war sehr betrunken, aber noch immer sehr schön und sehr liebenswert. Als sie am nächsten Morgen erwachte, hatte er bereits geduscht und rauchte eine Zigarette auf dem Balkon des Hotelzimmers. Sie trat zum ihm nach draußen und fragte ihn unsicher, ob in der vergangenen Nacht etwas passiert sei; sie könne sich nicht mehr wirklich erinnern. David sagte ihr, dass sie kurz nach der Ankunft im Hotel eingeschlafen sei. Er habe ihr dann noch die Jeans ausgezogen und sie zugedeckt. Mehr nicht?, wollte Eefje wissen. Mehr nicht, erwiderte David. Oder doch; ich habe dich gezeichnet. Während du schliefst. Eefje war überrascht und schien ein wenig verunsichert und wollte die Zeichnung sehen, also schlug David sein Skizzenbuch auf und zeigte sie ihr. Du siehst mich schöner, als ich bin, sagte Eefje. David schüttelte den Kopf.
In der Folge zeichnete er sie häufig, meistens dann, wenn sie schlief. Er saß auf dem Stuhl neben dem Bett und übertrug ihren Körper, der sich so natürlich in das warme Licht der kleinen Lampe auf dem Nachttisch fügte, auf das Papier. Er bildete jede Kontur ab, den leicht abstehenden Hüftknochen, die Schattierungen ihrer Brüste, die weiche Kante ihres Kinns, die Wellen in ihrem Haar.
Jede Nacht, in welcher sie bei ihm war, wartete er, bis sie eingeschlafen war, und setzte sich dann auf den Stuhl, mit dem Skizzenbuch im Schoss. Bisweilen veränderte er seine Position, platzierte den Stuhl am Fenster, dann wieder beim Einbauschrank, oder er setzte sich auf die Bettkante und zeichnete lediglich ein Ohr, die Lippen, eine Hand. Er schlief kaum in jener Zeit, doch er war dennoch selten müde. David fühlte sich hellwach, und vor allem fühlte er sich lebendig, wichtig, wertvoll.
Eefje war nicht einfach nur schön. Wenn er mit ihr in einem Café saß oder durch die Straßen von London ging, schien es ihm, als spiele er die männliche Hauptrolle in einer jener romantischen Komödien, die er stets belächelt hatte für ihre klebrige Süße und Künstlichkeit. Nun war er selbst Teil einer solchen Liebesgeschichte geworden. Die Welt zeigte sich in neuen Farben und Formen, und am liebsten hätte er alles in seinem Skizzenbuch festgehalten, jede skurrile Wolkenformation, jedes Reflexion in einer Pfütze, jedes alte Liebespaar, doch es gelang ihm nicht. Alles, was er zeichnen konnte, war Eefje. Und wenn sie nicht bei ihm war, zeichnete er sie in die Welt, ließ sie auf Wiesen liegen und auf Parkbänken sitzen. In seinem Skizzenbuch entstand ein neues Universum, das von Eefje ausging und sich in alle Richtungen ausdehnte.
Eines Abends blieb das Bett in seinem Hotelzimmer leer. Eefje war nicht gekommen, hatte sich nicht gemeldet. David versuchte, sie zu erreichen, doch auf ihrem Handy hörte er lediglich die Nachricht, dass sein Anruf nicht entgegengenommen werden könne, und vom Wohnheim wusste er weder die Adresse noch die Telefonnummer. Er lief ziellos durch London, suchte das Pub auf, in dem sie sich damals trafen, ging zu allen Orten, an denen sie einst gemeinsam waren, doch er sah sie nirgends, sie blieb verschwunden. In der Sprachschule fehlte ihm jede Konzentration, er fühlte sich schwer und träge. Abends saß er auf dem Stuhl neben dem Bett und zeichnete Eefje, er versuchte, sich an jedes Detail zu erinnern. Immer häufiger musste er zu alten Zeichnungen blättern, um sich der Formen zu vergewissern, und jedes Mal kam ihm wie eine Niederlage vor, ein Verlust.
Als er an seinem letzten Tag in London am Flughafen auf seinen Flug wartete, spürte er ein finales Aufbäumen der Hoffnung. Er schaute sich beständig um und stellte sich vor, dass Eefje zufälligerweise ebenfalls an jenem Tag zurückreisen und ihm begegnen würde. Aber er sah sie nicht. Da waren nur Tausende von fremden Menschen, mit ausdruckslosen Gesichtern und unförmigen Körpern.
Zu Hause in seinem Zimmer zeichnete er Eefje weiterhin, unaufhörlich, jeden Abend, als wäre es dadurch möglich, nicht nur die Erinnerung an Eefje, sondern auch den Zauber, den sie auf ihn ausübte, am Leben zu erhalten. Noch immer war er weder in der Lage noch daran interessiert, etwas anderes zu zeichnen, Eefje blieb sein einziges Motiv. Doch die Zeichnungen gelangen ihm immer weniger, die Striche fügten sich nicht mehr zu den passenden Formen zusammen, alles entschwand, wurde ungenau.
Und nun sitzt er in seinem Zimmer an seinem kleinen Schreibtisch, vor ihm liegt das geöffnete Skizzenbuch. David dreht den Stift in seinen Händen und starrt regungslos auf die leere Seite, auf die feinen Strukturen, auf diese weiße Fläche, die er nicht mehr zu füllen weiß. Als ein Tropfen auf das Skizzenbuch fällt, zuckt er zusammen. Er hält sich den Unterarm an die Nase und atmet ein. Dann beobachtet er, wie das Papier langsam wieder trocknet.

bitte geb‘ Bescheid, wenn du mal ein Buch herausbringst – großartig dein Schreibstil!
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Naja, ein kleines ist draussen…
https://disputnik.com/2017/10/19/hornhaut-wortlandschaften/
…und ja, wenn was folgt, geb ich hier Bescheid… Vielen lieben Dank dir!
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oh, glatt übersehen – danke für den Link 🙂
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Sehr gerne!
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und das Geheimnis ihres Verschwindens steht immer noch im Raum, hat ihre Konturen, zeigt feine Spuren der Vergänglichkeit und irgendwann wird er nur noch selten an sie denken …
Aber schade ist es doch *seufz*
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Ja, schade ist es, aber immerhin war da was, etwas Wertvolles, und das ist besser als nichts… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, liebe Bruni, und herzliche Grüsse
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*seufz*, ja …
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Ist das nun ein Segen oder ein Fluch, wenn man von jemandem so besessen ist oder der von einem so stark Besitz ergriffen hat
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Ich glaub, Besessenheit ist selten ein Segen, ist eher Einschränkung als Befreiung… Herzlichen Dank dir fürs Lesen!
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toll
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Vielen lieben Dank!
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