Wisch.
Der Wind hat wieder nachgelassen. Das graue Rechteck ist übersät von trockenen Blättern und vereinzelten Fetzen Papier oder Plastik, die hin und wieder von den schwachen Windstößen in Bewegung versetzt werden. Er müsste den Vorplatz vor dem Haus eigentlich nicht fegen. Es besteht keine Notwendigkeit, keine Dringlichkeit, schließlich wird der Wind bald wieder zunehmen und … Weiterlesen Wisch.
Wider die Klarheit.
Der Wein ist günstig, aber nicht billig. Darauf legt sie Wert. Sie trinkt keinen Fusel, würde nie Fusel trinken, will den Wein nicht als bloßes Mittel zum Zweck verstehen. Doch dieses Präzisieren und Insistieren ist eigentlich haltlos. Sie muss niemandem Rechenschaft ablegen, nur sich selbst, und das kommt am Ende aufs Gleiche heraus. Obwohl es … Weiterlesen Wider die Klarheit.
Ein altes, müdes Tier.
Die Welt flackert, eine Bildstörung, flüchtige Irrlichter in der Dämmerung. Dein rechtes Auge, es zuckt wieder. Das Zucken gehört zu dir wie deine Stimme, dein Gang, dein Schniefen, wenn du erkältet bist. Du streichst dir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, doch sie fällt sofort zurück. Du versuchst es nochmals. Scheiterst erneut. Also gibst du auf. … Weiterlesen Ein altes, müdes Tier.
Die Verachtung.
Die Frau, die vor dem Milchregal steht, schaut missmutig zu ihm hin. Nein, sie schaut misstrauisch, geringschätzig gar, findet er. Manche Menschen tragen ihre Verachtung wie eine Trophäe im Gesicht, ihre Herablassung ist ihnen hold, als wäre sie eine Qualität, die es zu hegen gelte. Nicht so diese Frau, die mit ihrer schmalen Statur und … Weiterlesen Die Verachtung.
Die helle Seite.
Ihre Finger gleiten über die weiche Oberfläche, schiebend und drückend, tastend und streichelnd. Sie fertigt kleine Figuren aus schwarzer Knetmasse, schmale, feingliedrige, geschlechtslose Wesen, mit ähnlichen Proportionen und minimalen Unterschieden in Körperhaltung und Ausdruck. Sie stellt die Figuren auf ein langes Regalbrett an der Wand, eine neben die andere; eine schweigende Prozession der Gesichtslosen, eine … Weiterlesen Die helle Seite.
Sie ist.
Ich bin eine 25-jährige Frau. Nein, ich bin eine 39-jährige Frau. Nein, ich bin ein kleiner Junge, der im Körper einer 39-jährigen Frau wohnt. Nein, ich bin eine 52-jährige Frau, die sich vorstellt, ein kleiner Junge zu sein, der im Körper einer 39-jährigen Frau wohnt, die gerne eine 25-jährige Frau wäre. Ich bin ziemlich verwirrt. … Weiterlesen Sie ist.
Zum Glück.
Man sagt, dass Glück und Unglück nahe beieinander liegen, somit kann man Glück und Unglück als Nachbarn verstehen, kann sich ein überschaubares Einfamilienhausquartier vorstellen, und in einem der Häuser wohnt das Glück und im Haus daneben wohnt das Unglück. Nun geht in der Nähe dieses Einfamilienhausquartiers ein Kind ins Schwimmbad, überschätzt seine Schwimmfähigkeiten und ertrinkt … Weiterlesen Zum Glück.
Er fährt in den Krieg.
Er fährt in den Krieg, nicht zum ersten Mal, sondern erneut, nach dem Urlaub fährt er wieder zurück in den Krieg, zurück an die Front, die Ostfront, er fährt mit dem Zug, mit dem Fronturlauberzug, zusammen mit vielen anderen Männern, er fährt mit dem Zug in den Krieg in einem Buch von Heinrich Böll, dem … Weiterlesen Er fährt in den Krieg.
Atomar.
Draußen vor dem Fenster zieht ein Atomkraftwerk vorüber. Der weiße Dampf steigt in den blauen Himmel, langsam und seltsam träge, als wäre er schwer und plump. Der Rest der Welt wirkt neben dem mächtigen Gebilde verschwindend klein, ordnet sich der Größe der Kühltürme unter wie kleine Insekten einer riesigen Königin. Es scheint unmöglich, ein Atomkraftwerk … Weiterlesen Atomar.
Bestie.
Sie ist längst kein kleines Mädchen mehr, die Ängste der Kindheit hat sie im Geröll der Zeit begraben. Doch sie fürchtet den Wolf. Häufig vergisst sie, dass es ihn gibt, oder kann es zumindest vermeiden, an ihn zu denken. Wenn ihr die Angst jedoch wieder unter die Haut kriecht, macht sie ihr den Hals trocken … Weiterlesen Bestie.
Undank.
Die ältere Dame sitzt auf einer Parkbank und sagt, dass ihr Hals so trocken sei und sie großen Durst verspüre, jedoch ihren Geldbeutel zu Hause vergessen habe und sich nichts kaufen könne. Sie sieht tatsächlich durstig aus, die Haut wirkt seltsam verdorrt, also beschließt man, zu handeln. Man kauft im nahen Lebensmittelladen eine Flasche Mineralwasser … Weiterlesen Undank.
Der Hund ist nicht das Problem.
Der Hund ist nicht das Problem. Ja, der Hund ist irritierend, zumindest ist das, was er tut, ziemlich irritierend. Doch der Hund ist nicht das Problem. Der Hund ist nicht das Problem, aber dennoch sei die Frage erlaubt: Warum machen Hunde das? Verwechseln sie menschliche Beine tatsächlich mit Artgenossen? Haben sie irgendwann einmal gehört, dass … Weiterlesen Der Hund ist nicht das Problem.
Werner Huber hat genug.
Ich habe genug, ruft er, und er tut es laut, mit einem metallischen, schneidenden Klang in der Stimme. Seine Botschaft durchbricht die träge Stille, die in den Räumen der Pflegestation liegt, hallt von den zumeist kahlen Wänden zurück. Kurz ist das Klappern von Geschirr zu hören, dann wieder der Ausruf. Ich habe genug! Es ist … Weiterlesen Werner Huber hat genug.
Wollen müssen.
Man muss nur wollen, sagt eine Person, die Sofia kennt, also nur rudimentär kennt, eine Peripherbekanntschaft sozusagen. Sofia erinnert sich nur an guten Tagen an den Vornamen dieser Person, und heute will ihr der Vorname nicht einfallen. Sie spielt das Alphabet durch, um so vielleicht herauszufinden, mit welchem Buchstaben der Vorname beginnt, aber sie gelangt … Weiterlesen Wollen müssen.
Und vielleicht sogar Magie.
Sie wundert sich darüber, dass es in Filmen manchmal so wirkt, als würden sich die Räder eines Autos rückwärtsbewegen, obwohl das Auto vorwärtsfährt. Sie findet dieses Phänomen äußerst merkwürdig, rätselhaft, geradezu faszinierend. Und weil sie nicht genau weiß, woran es liegt, und sich auch nicht sonderlich stark darum bemüht, es herauszufinden, bewahren sich die rückwärtsdrehenden … Weiterlesen Und vielleicht sogar Magie.
Frau Elmer.
Jaja, wahrscheinlich war ich ein kleines bisschen verliebt in die Frau Elmer, denn die Frau Elmer kannte alle Bücher in der Bibliothek, wirklich alle, denn über jedes einzelne Buch, das ich auslieh, wusste sie bestens Bescheid, wusste so gut Bescheid, wie man nur Bescheid wissen kann, wenn man ein Buch auch tatsächlich gelesen hat, und … Weiterlesen Frau Elmer.