Die Zeit platzt bisweilen aus ihren Nähten. Von den vierundzwanzig Stunden, die den Rhythmus ihres Daseins strukturieren, kann die Frau zumeist nur deren vier oder fünf entbehren, um sich in ihrem lieblosen Schlafzimmer einen lieblos gezimmerten Schlaf zu gönnen. Die übrigen Stundenbruchteile sind gefüllt mit den Dingen des Alltags, mit Druck und Erwartungen, von anderen auferlegt, vor allem aber von ihr selbst. Hin und wieder gerät sie außer Atem, ringt nach Sauerstoff. Dann öffnet sie ein Fenster, oder zwei oder drei, doch es hilft nicht, im Gegenteil; sie bekommt Rückenschmerzen von der Zugluft. Manchmal kauft sie Schnittblumen, weil ihr Mann es nicht tut, stellt die Blumen in eine Vase und die Vase auf die Kommode, und wenn die Blumen nach einigen Tagen die Köpfe hängen lassen, zuckt sie mit den Schultern und wirft die Blumen in den Komposteimer. Wenn sie das Essen vorbereitet oder die Wäsche wäscht oder Einkaufslisten schreibt oder die Zimmer der beiden jüngsten Kinder aufräumt, hält sie nur selten inne in ihrem Tun, und wenn sie es tut, fühlt sie sich seltsam hohl.
Zu den wenigen Inseln im alles umfließenden Ozean der Zeit zählen die Momente, in welchen sie allein in ihrem Auto sitzt und von A nach B oder von B nach A fährt. Dieses seelenlose Konstrukt aus Blech, Metall, Plastik und Textilien schafft einen Rahmen, der ein eigenes Existieren ermöglicht, eine Loslösung vom Umfeld, von äußeren Einflüssen. Ihr Auto ist ein Peugeot und ihr Peugeot ist ein Ort ohne Dringlichkeit, ein Ort ohne Druck, sogar dann, wenn sie in Eile ist. Sie denkt rund um die Uhr, doch in ihrem Peugeot erhält ihr Denken eine neue Dimension. Die Frau denkt anders in ihrem Peugeot, denkt ruhiger, denkt fokussierter, und heute denkt sie an ihre älteste Tochter. Sie ist ausgezogen und lebt vorübergehend in Dublin. «Meine Tochter, so schön und mutig. Die sich an die Freiheit klammert, mit aller Kraft. Die sagt, dass sie sich nicht festlegen mag, ob sie Männer oder Frauen liebt. Die so ganz anders ist als ich.» Dass sie diese Worte nicht nur im Kopf belässt, sondern sie laut in den sicheren und klar abgegrenzten Innenraum ihres Autos spricht, macht das Gesagte deutlich greifbar, verleiht dem Gedanken mehr Gewicht und Substanz.
Im Autoradio läuft der Song 7 Seconds von Neneh Cherry und Youssou N’Dour. Sie mochte den Song, als er 1994 veröffentlicht wurde, und sie mag den Song noch immer. Er handelt von Rassismus, der Titel bezieht sich auf die ersten positiven sieben Sekunden im Leben eines Kindes, das gerade geboren wurde und nichts von den Problemen und der Gewalt in der Welt weiß. Als der Refrain erklingt, singt die Frau mit, sie, die sonst nie singt, weil sie glaubt, es nicht genügend gut zu können, um andere mit ihrem Gesang zu konfrontieren. Allein im Auto kann sie so falsch singen, wie sie will, und es ist trotzdem richtig.
Vor ihr fährt ein Lkw, auf dessen Ladefläche lange Metallstangen aufgetürmt sind. Wie ein träges, überdimensionales Ungetüm schiebt sich das Fahrzeug über den Asphalt, ergriffen von einem stetigen Beben und Vibrieren. Die Metallstangen scheinen nur rudimentär befestigt, einige bewegen sich, zittern bedrohlich. Die Frau fährt noch ein wenig näher heran, blickt dann in den Rückspiegel, wo eine lange Reihe an Fahrzeugen zu sehen ist, die sich auf der Überholspur annähern, um das Auto der Frau und vor allem den Lkw zu überholen. Ein Auto nach dem anderen zieht an ihr vorüber, in lähmend langsamer Geschwindigkeit, beinahe zeitlupengleich. Die Frau blickt vom Rückspiegel zu den zitternden Metallstangen auf dem Lkw und wieder in den Rückspiegel, hin und her, hin und her, während die Sekunden ungenutzt verstreichen. Als die Frau endlich eine kleine Lücke zwischen zwei überholenden Autos entdeckt, setzt sie hastig den Blinker und schert rasch aus, als sich die Möglichkeit bietet. Während sie ein wenig beschleunigt, um den Lkw zu überholen, sieht sie im Augenwinkel, wie sich eine der Metallstangen in Bewegung setzt und aufreizend langsam vom Stapel auf der Ladefläche gleitet. Als die Metallstange auf die Fahrbahn prallt, tut sie es in einer Distanz zum Lastwagen, in welcher die Frau noch kurz zuvor gefahren war.
Ihre Finger klammern sich an das Lenkrad, als wäre es der letzte verbliebene Halt vor dem Ende aller Dinge, blickt starr nach vorne. Der Peugeot gleitet ruhig und unversehrt am trägen Ungetüm vorüber, doch in den Gedanken der Frau befindet er sich noch immer hinter dem Lkw, die Metallstange zittert und fällt, sie bohrt sich durch die Windschutzscheibe des Peugeot, bohrt sich durch ihren Schädel, bleibt stecken in ihrem Kopf, bleibt stecken in ihrem Hirn, bleibt stecken in der Zeit.
«Neneh Cherry und Youssou N’Dour mit 7 Seconds», sagt der Radiomoderator nach dem letzten Ton des Songs und leitet dann über zu den Nachrichten, zu den Problemen und der Gewalt in der Welt. Die Frau drückt das Gaspedal ihres Peugeot etwas stärker hinunter, hat es plötzlich eiliger als zuvor. Als sie in den Rückspiegel schaut, ist der Lkw nicht mehr zu sehen. Nur die einzelne Metallstange ist noch da, steckt fest, in ihrem Kopf und in der Zeit.

Klasse, einfach klasse. So wie der Song und die Liebe zu einem französischen Auto. Ah, so ein süßer kleiner Peugot, rauscht mir ein Bild in den Sinn. Am Ende der Geschichte denke ich seltsamerweise an eines meiner Künstlervorbilder: Frida Kahlo. Frida, der als junge Frau eine Haltestange der verunglückten Straßenbahn mitten durch den Rücken fuhr. Frida mit diesen Schmerzen, die sie niemals ganz verließen und ich frage mich, ohne Unfälle gutheißen zu wollen: wäre sie eine so geniale und frei denkende Frau geworden ohne diese Erfahrung und den Schmerz? Deine Lieblosfrau, ich ahne, dass sie so weiter machen wird wie bisher. Die Stange steckte schon vorher tief in ihrem Kopf, oder?
Vielleicht wird sie erleichtert sein, weil alles so bleiben darf wie es eben ist. Ich glaube, sie wird nie ein Bild malen von ihrem Beinahunfall und vom Adrenalin, Prickelstiche -für einen winzigen Moment in ihren Adern und die Erinnerung daran, wie grausam schön Gefahr sein kann.
Lieben Lesedank und Gruß von
Amélie
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Vielen lieben Dank dir, liebe Amélie!
Ja, wahrscheinlich wird sie weitermachen wie bisher, wird denken, sie müsse, wird auch keine Zeit finden, Bilder zu malen, doch womöglich rückt die Beinahe-Erdolchung ja dennoch ein bisschen was gerade, man weiss ja nie…
Nochmals lieben Dank, auch für Frida, und herzliche Grüsse
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