Sie wohnt in einem gefährlichen Haus. Da sind morsche Balken, knarrende Dielen. Da sind Löcher im Dach und kleine Ritzen in der Fassade, durch die der Wind pfeift. Doch vor allem ist da die Verkabelung. Die elektrischen Installationen sind nicht sicher. Sie sind alt und brüchig. Obwohl sie die Kabel nicht sehen kann, weil sie hinter den Wänden verlaufen, weiß sie, dass es so ist. Sie weiß, dass die Kabel alt und brüchig sind. Sie weiß, dass die Kabel gefährlich sind.
Manche sagen, bei ihr sei eine Sicherung durchgebrannt. Manche sagen, bei ihr komme es bisweilen zu Kurzschlussreaktionen. Doch das stimmt nicht. Jene, die das sagen, irren sich. Die Verkabelung ist schuld. Die schlechte Verkabelung. Doch sie mag es nicht erklären müssen. Das bringt nichts, denkt sie. Die Leute glauben, was die Leute glauben. Es hat keinen Zweck, nach den richtigen Worten zu suchen. Die Leute wollen die richtigen Worte gar nicht hören.
Hin und wieder denkt sie daran, aus dem Haus auszuziehen. Doch das ist nicht so einfach. Sie hat nur dieses Haus. Ein anderes Haus kann es für sie nicht geben. Da ist nur dieses Haus, dieses gefährliche Haus, mit der schlechten Verkabelung. Das Haus ist mit ihr verwachsen, sie gehört zum Haus und das Haus gehört zu ihr. Würde sie aus dem Haus ausziehen, könnte sie nirgends hin. Sie wäre nirgends. Und wer nirgends ist, ist niemand.
Wenn es sehr stark regnet, befürchtet sie, dass das Wasser durch die Löcher im Dach eindringen könnte. Dass es nach innen und nach unten gelangen könnte, hinter die Wände. Dort würde es dann mit den alten und brüchigen Kabeln in Berührung kommen. Das wäre nicht gut. Sie ist nicht sicher, was geschehen würde, wenn die Verkabelung nass werden würde. Sie glaubt, dass sie nicht herausfinden will, was geschehen würde. Aber sicher ist sie nicht.
Theoretisch könnte man die Verkabelung ersetzen. Theoretisch könnte man die Kabel sicher machen, könnte das Haus sicher machen. Theoretisch ist fast alles möglich. Aber das Theoretische ist nichts wert, wenn es in der Wirklichkeit unmittelbar zerspringt und zerfällt. Und manchmal macht es sie wütend, das Theoretische; mit seiner Arroganz und seiner Überheblichkeit und seinen Trugbildern.
Eigentlich könnte sie einfach das Licht ausgeschaltet lassen. Könnte das Radio ausgeschaltet lassen. Könnte die Kaffeemaschine ausgeschaltet lassen. Das wäre sicherer. Es würde dann keine Rolle spielen, dass die Verkabelung gefährlich ist. Und manchmal tut sie es tatsächlich. Lässt das Licht ausgeschaltet, das Radio, die Kaffeemaschine. Wenn sie dann im Bett liegt, kann sie nicht einschlafen, weil die Leere in den Ohren rauscht. Nein, sie braucht Licht. Braucht Musik. Und Kaffee mag sie einfach.
Die Verkabelung wird nicht ewig halten, das ist ihr bewusst. Aber Ewigkeit ist ohnehin ein schreckliches Wort. Meistens lässt sie die Kabel einfach alt und brüchig sein, dort hinter den Wänden. Ab und zu schaut sich jemand die Verkabelung an und erzählt ihr Dinge darüber, doch all diese Dinge weiß sie bereits. Bisher hat noch kein Jemand jemals neue Dinge erzählt über die Verkabelung in ihrem Haus.
Und so sitzt sie da. In ihrem gefährlichen Haus mit der gefährlichen Verkabelung. Mit den Löchern im Dach und den Ritzen. Mit dem Radio und der Kaffeemaschine. Wenn es zu regnen beginnt, zuckt sie zusammen. Und wenn der Regen wieder aufhört, zuckt sie mit den Schultern.

Ich denke, sie lebt wirklich gefährlich…
Ich hätte da keine Minute Ruhe.
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Nein, an Ruhe ist bei ihr wohl nicht zu denken… Lieben Dank dir fürs Lesen!
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Feiner Text, lieber Disputnik!
Das Lesen: ein großes Vergnügen!
Vielleicht sollte die Heldin des Textes die Verkabelung durch ein modernes WLAN ersetzen?! Was meinst du?!
Herzliche Grüße aus dem Ländle vom Finbar
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Lieber Finbar, für manche Verkabelung gibt es wohl einfach keinen Ersatz… Vielen Dank dir fürs Lesen und herzliche Grüsse zurück!
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Das ist wahr, lieber Disputnik …
hab einen schönen Tag!
LG Finbar
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Den wünsche ich dir auch!
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