Im Garten ihres Nachbarn steht eine Fliederpflanze. Sie mag Flieder sehr gern, sie würde auch den Flieder im Garten ihres Nachbarn sehr gern sehr gern mögen, doch die Pflanze ist eingepfercht zwischen vielen anderen Sorten von Grün und kann sich kaum entfalten. Auch schenkt der Nachbar dem Flieder keine Beachtung. Eigentlich mag sie ihren Nachbarn. Zwar mag sie ihn nicht so gern, wie sie Flieder mag, aber dafür kann der Nachbar nichts. Dass er jedoch den Flieder ignoriert und ihn allmählich verkümmern lässt, nimmt sie ihm übel. Manchmal, wenn sie den Nachbarn sieht, kneift sie ihre Augen zusammen und spürt, wie ihre Lider ein wenig zittern.
Eines Nachts lässt sie sich von der nervenzehrenden Weckmelodie ihres Telefons aus dem Schlaf reißen, steigt aus dem Bett und zieht sich warm an. Draußen vor der Tür schaut sie gebannt auf die Fenster am Haus ihres Nachbarn. Kein Licht brennt, alles ist dunkel, alles ist still. Sie wartet einige Minuten, klammert ihre Finger an den Stiel einer Schaufel und geht dann vorsichtig hinüber, betritt den Garten ihres Nachbarn und nähert sich dem Flieder. Noch einmal blickt sie prüfend zur Fensterfront des Hauses ihres Nachbarn und beginnt dann zu graben.
Es dauert einen ganzen Tag, bis der Nachbar das Fehlen bemerkt. Mit zaghaften Schritten geht er zur Stelle, an welcher der Flieder stand, und blickt auf das Loch, das sie beim Ausgraben zurückgelassen hat. Er geht in die Hocke und lässt dabei ein leises Ächzen ertönen. Mit seinen Fingern berührt er die Erde, zuckt leicht zurück und schaut sich um, womöglich in der Erwartung, den Flieder an einer anderen Stelle zu entdecken, gerade so, als hätte sich die Pflanze eigenmächtig einen neuen Platz gesucht.
Von ihrem Fenster aus beobachtet sie ihren Nachbarn, wie er in den nächsten Tagen wiederholte Male zu jenem Punkt in seinem Garten geht, an welchem sich zuvor der Flieder befunden hatte. Sie sieht sein Gesicht und stellt fest, wie neue Formen und Bewegungen die Gesichtszüge erfassen. Sie bekundet häufig Mühe, die Gefühlsregungen von Menschen einzuordnen, und weiß nicht, ob das Antlitz des Nachbarn von Traurigkeit oder Irritation oder Verunsicherung oder Angst oder Ohnmacht erzählt. Während sie ihn unvermindert anstarrt, bemerkt sie, dass sie ihre Augen nicht mehr zusammenkneift und ihre Lider nicht mehr zittern.
Als sie und ihr Nachbar sich zufällig vor dem Haus begegnen, fragt er sie, ob ihr in seinem Garten etwas aufgefallen sei. Sie schüttelt den Kopf. Er spricht den Flieder an, erzählt von dessen Verschwinden, das er sich nicht erklären könne. Da sind wieder diese Formen und Bewegungen in seinem Gesicht. Sie schüttelt den Kopf etwas heftiger und zuckt dann mit den Schultern.
Einige Wochen später wartet sie, bis der Nachbar mit seinem Wagen weggefahren ist, und geht zu seinem Briefkasten. Sie holt die Fotografie aus ihrer Tasche und schaut sich das Bild noch einmal an. Der Flieder ist groß geworden an seinem neuen Platz, die Zweige, Blätter und Blüten recken sich in den blauen Himmel. Sie streicht mit ihrem Daumen einige Male über das Fotopapier und lächelt dabei. Dann lässt sie das Bild in den Briefkasten gleiten.

Lächel … fein fein 😊
Herzliche Morgengrüße vom Finbar
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Vielen Dank dir fürs Lesen und Lächeln, lieber Finbar. Und herzliche Grüsse zurück…
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⭐ ⭐ ⭐
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Sehr schön, ich liebe Flieder. Und manche Dinge lernt man leider oft erst dann wirklich schätzen, wenn sie nicht mehr da sind 😅
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Ja, das ist so… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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schööön *schmunzel*
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Vielen lieben Dank dir!!!
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Eine sehr schöne Geschichte. Mag der Nachbar denken, der Flieder sei ihm davongelaufen 😉 Hat er davon.
Liebe Grüße!
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Vielen Dank dir! Jaha, und vielleicht lernt der Nachbar noch was dabei… Herzliche Grüsse zurück…
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