Die helle Seite.

Ihre Finger gleiten über die weiche Oberfläche, schiebend und drückend, tastend und streichelnd. Sie fertigt kleine Figuren aus schwarzer Knetmasse, schmale, feingliedrige, geschlechtslose Wesen, mit ähnlichen Proportionen und minimalen Unterschieden in Körperhaltung und Ausdruck. Sie stellt die Figuren auf ein langes Regalbrett an der Wand, eine neben die andere; eine schweigende Prozession der Gesichtslosen, eine … Weiterlesen Die helle Seite.

Auf dünnem Eis.

Es wird brechen, das Eis, daran besteht kaum ein Zweifel. Noch trägt es, und solange sie sich nicht bewegt, kann sie diesen Moment der Sicherheit noch ausdehnen, kann ihn in die Länge oder vielmehr in die Breite ziehen. Aber irgendwann muss sie sich bewegen. Ohne Bewegung gibt es kein Weiterkommen. Wer sich nicht bewegt, ist … Weiterlesen Auf dünnem Eis.

Denkwürdig.

Sie hat ein Eichhörnchen überfahren. Es lief vor ihr über die Straße, und die Straße war nass, und die Sonne, die durch die Wolkendecke gebrochen war, hatte sie geblendet, und sie war wirklich aufmerksam und konzentriert, sie war eigentlich eine gute Autofahrerin, und sie hat noch versucht, dem Tier auszuweichen, doch das alles ändert nichts … Weiterlesen Denkwürdig.

Kunst.

In einem großen und karg eingerichteten Raum hängt ein Mann ein weißes Leinentuch über einen Kleiderständer und nennt es Kunst. Er lädt einige Menschen ein, die er kennt, und diese laden einige Menschen ein, die er nicht kennt, und dann stehen diese Menschen im großen und karg eingerichteten Raum und bilden einen Kreis um das … Weiterlesen Kunst.

Der Specht.

Draußen vor dem Fenster klopft ein Specht. Sie kann ihn hören, und sie kann ihn sehen. Immer wieder zuckt sein Kopf, immer wieder hämmert er seinen Schnabel in die Baumrinde, wie von Sinnen. Es ist ein fürchterliches Bild. Sie würde wohl allein schon bei der Vorstellung, mit ihrem Schädel wiederholt gegen einen Baumstamm klopfen zu … Weiterlesen Der Specht.

Hätte.

Der Gedanke hätte überall auftauchen können, doch er tut es an der Biegung eines Flusses. Eva ist mit ihrer Freundin Diana unterwegs, ein Wanderausflug, längst zur Tradition geworden. Es ist ein relativ warmer Tag, ein lauer Wind schiebt Wolkenfetzen über den Himmel, in den Waldstücken vermengen sich Vogelrufe und das Rauschen der Blätter. Als sie … Weiterlesen Hätte.

Knoten.

Nach dem Duschen stellt sich Emma vor den Spiegel. Sie führt ihre Nase zu ihrem Unterarm und atmet ein. Sie mag den Duft des Duschgels auf ihrer Haut, mag die Frische und Sauberkeit, für die es steht. Dann betrachtet sie ihren Körper. Sie tut das viel zu selten, sollte doch eigentlich häufiger hinschauen, genauer hinschauen, … Weiterlesen Knoten.

Pasta.

Sie wohnten einige Jahre lang im gleichen Haus. Das Haus war voller Leben, war bunt und herzlich, ein wundervoller Mikrokosmos, in welchem so vieles und so viele Platz hatten. Es war ein schönes Haus, denkt Yvonne. Doch vielleicht war es das auch nur wegen ihr. Wegen Francesca. Sie hat sich eine Nudelmaschine gekauft. Schon lange … Weiterlesen Pasta.

Ein dunkelgrau gekleideter Reiter.

Etwa eine Woche, bevor die Welt untergeht, hat Hugo ein Vorstellungsgespräch für eine Stelle in der Redaktion einer Boulevardzeitung. Er mag die Boulevardzeitung nicht, er liest sie nicht und findet die überdimensionalen Schlagzeilen fürchterlich, doch er ist arbeitslos und antriebslos und braucht Geld, also geht er hin, zu jenem Gespräch. Im Besprechungszimmer hängt ein ziemlich … Weiterlesen Ein dunkelgrau gekleideter Reiter.

Im Freibad.

Er war wohl noch ein Kind, als er zum ersten Mal mit dem Gedanken spielte, es zu tun. Wahrscheinlich lag er mit seinen Freunden auf dem akkurat geschnittenen Rasen, und man sprach darüber, machte lapidare Sprüche. Auf die meisten seiner Altersgenossen schien der Gedanke keine Anziehungskraft auszuüben, doch er war umgehend fasziniert von der Vorstellung. … Weiterlesen Im Freibad.

Wahrscheinlich.

Ein zäher Nebel hat die abendliche Landschaft durchdrungen, in der Dämmerung ragen Straßenlaternen und Bäume dunkel in die graue Masse, die Häuser schälen sich schemenhaft aus dem Dunst, wenn man sich ihnen genügend nähert. Die Welt reduziert ihre Ausdehnung, jede Weite scheint ausgemerzt. Er fährt mit dem Auto über nahezu leere Straßen, der Blick klammert … Weiterlesen Wahrscheinlich.

Da capo al fine.

Sie greift an den Hals der Violine, ertastet die Saiten und das schmale Griffbrett, lässt die Fingerkuppen über das glatte Holz des Korpus gleiten. Noch immer, nach all den Jahren, hat sie den Eindruck, die Violine sei ein lebendes Geschöpf, ein Wesen, das atmet und empfindet und reagiert. Sie steht in der Mitte ihres Wohnzimmers, … Weiterlesen Da capo al fine.

Das Schweigen der Stadt.

Die Konturen der fernen Landschaft sind unverändert, die Zeit hat höchstens einige Dellen hinterlassen. Aber schon am Rand der kleinen Stadt ist nahezu nichts mehr so wie früher, die Erinnerungen scheinen Trugbilder zu sein, die charmanten Holzhäuser mussten grauen Klötzen weichen. Sie fährt ihren kleinen Fiat an den Straßenrand und steigt aus, legt die Unterarme … Weiterlesen Das Schweigen der Stadt.

Die alte Kälte.

Man mag ihn nicht, hat ihn nie gemocht. Vielleicht hat man es zu Beginn noch versucht, aber nie wirklich geschafft, und irgendwann hat man dann wohl aufgehört, es überhaupt in Betracht zu ziehen. Man hat sich damit abgefunden, dass man gewisse Menschen liebenswert oder sympathisch findet, er aber nicht zu diesen Menschen zählt. Die Abneigung, … Weiterlesen Die alte Kälte.

Viel zu laut.

Da ist diese Liebe, vollkommen, unumstößlich, bedingungslos, wie sie wohl nur das eigene Kind auszulösen vermag. Ein Gefühl, das keines Hinterfragens bedarf, keiner Deutung; ein Gefühl, so klar und schön und gut. Und dann das. Man wird laut. Sehr laut. Viel zu laut für die Situation, viel zu laut für jede Situation. Ein Tadel wäre … Weiterlesen Viel zu laut.

Auf dem Balkon.

Er weiß nicht, wann genau ein Mann zu einem alten Mann wird, doch er weiß, dass dieser Moment weit hinter ihm liegt. Seine Hände sind von Flecken übersät, und manchmal, wenn er sie zu Fäusten ballt, werden sie von unsichtbaren Messern durchbohrt. Ansonsten ist er gesund. Das Wort rüstig findet er furchtbar. Wenn er sie … Weiterlesen Auf dem Balkon.

Pluto.

Irgendwann verlor er das Gefühl in den Füssen und den Boden darunter, füllte die entstandene Leere mit Gift und Galle, starrte ins Nichts, und später, sehr viel später wachte er auf, die Haut trocken und spröde, die Hose zerschlissen, und er fragte sich, ob die Jahre, die er verloren hatte, je von jemandem gefunden werden … Weiterlesen Pluto.