Der Gedanke hätte überall auftauchen können, doch er tut es an der Biegung eines Flusses. Eva ist mit ihrer Freundin Diana unterwegs, ein Wanderausflug, längst zur Tradition geworden. Es ist ein relativ warmer Tag, ein lauer Wind schiebt Wolkenfetzen über den Himmel, in den Waldstücken vermengen sich Vogelrufe und das Rauschen der Blätter. Als sie den Fluss erreichten, war das Hätte noch nicht da, doch jetzt, nachdem sie sich auf einem der zahlreichen Steine am Rande des Wassers niedergelassen haben, Diana sich eine Zigarette angezündet und Eva einen Schluck aus ihrer Wasserflasche genommen hat, ist das Hätte plötzlich aufgetaucht, als sei es vom Fluss mit sich getragen worden. Hätte sie es tun sollen? Hätte sie Anita küssen sollen? Sie hätte doch, ach, hätte sie doch! Aber hätte sich dadurch etwas geändert?
An ihrem kleinen Finger fehlte ein Glied, doch das war nicht der Grund, weshalb Anita anders war als alle anderen. Der Unterschied lag wohl vornehmlich in den Augen. Wenn andere Menschen sie ansahen, glaubte Eva in deren Augen stets ein Fragezeichen zu erkennen. In Anitas Blick lag kein Fragezeichen. Da war nur Klarheit, ungetrübt und unbeirrbar. Anita redete nicht viel, doch wenn sie sprach, trug jedes Wort eine ungeahnte Bedeutsamkeit in sich, jede Silbe war wichtig, jeder Satz schien ein Stück der Welt zu erklären. In dieser Welt, in welcher sich Eva häufig als plumper Fremdkörper fühlte, waren die Momente mit Anita wie kleine rettende Inseln der Unbeschwertheit.
Eines Tages saß sie mit Anita am Ufer eines Flusses. Es war nicht der gleiche Fluss, an welchem nun das Hätte aufgetaucht war, aber das Bild war ein ähnliches an jenem besagten Tag, und vielleicht ließ sich dadurch erklären, woher das Hätte gekommen war. Denn an keinem anderen Tag war sie den Lippen von Anita so nah, an keinem anderen Tag spürte sie die Wärme von Anitas Körper so dicht neben ihr. Sie waren spazieren gegangen und hatten sich am Flussufer niedergelassen. Anita redete ungewohnt viel, und Eva lauschte dem Klang ihrer Stimme, als läge darin die Antwort auf alle drängenden Fragen. In einem Moment der Stille schauten sich Eva und Anita an, und ihre beiden Köpfe neigten sich einander zu, zwar nur langsam, aber eindeutig, daran hatte Anita nicht den geringsten Zweifel. Evas Lippen öffneten sich scheinbar automatisch, doch bevor sie auf Anitas Lippen hätten treffen können, hielt Eva kurz inne. Sie suchte in Anitas Augen nach einem Fragezeichen, doch dort war nach wie vor keines zu finden. Eva zögerte noch immer, und das nächste, was sie hörte, waren die Stimmen von einigen jungen Männern, die am Flussufer eingetroffen waren und sich lautstark bemerkbar machten. Nach jenem Tag saß Eva nie mehr mit Anita am Fluss. Sie sahen sich zunächst unvermindert häufig, doch dann immer seltener, und irgendwann verschwand Anita aus ihrer Welt, floss um eine Biegung und immer weiter, hinaus ins Unbekannte.
Eva hatte Beziehungen mit Männern und Frauen gehabt, und manche dieser Beziehungen waren durchaus erfüllend und bereichernd gewesen, doch keine konnte die Erwartungen erfüllen, die in Eva gereift waren. Und jetzt, als sie daran denkt, dass sie Anita doch hätte küssen müssen, damals am Fluss, wundert sich Eva, ob vielleicht nicht doch alles hätte anders werden können.
Sie fragt ihre Freundin Diana, ob sie etwas anders machen würde, wenn sie ihr Leben noch einmal leben könnte, doch als Diana in großer Ausführlichkeit antwortet, hört ihr Eva gar nicht wirklich zu. Sie wartet nur darauf, dass Diana ihrerseits fragt, was Eva anders machen würde, wenn sie ihr Leben noch einmal leben könnte, doch als Diana tatsächlich fragt, was sie anders machen würde, wenn sie ihr Leben noch einmal leben könnte, zuckt Eva lediglich mit ihren Schultern und blickt auf das vorüberziehende Wasser.

Schön, danke
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Ich danke dir!
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Weil das Hätte etwas sagt…es ist eine Blockade, ein Hindernis. Es erscheint ganz klein, so aus der Ferne betrachtet, dieses Hätte. Doch wenn Du näher herantrittst, wird es größer und der Lauf der Dinge findet wie ein Fluss in der Biegung einen guten Grund.
Und dann ist es kein Hätte mehr. Sondern ein klares und ungetrübtes Nein. Du kannst es fragen, natürlich: warum? Doch seit wann antworten Flusskiesel anders als mit undeutlichem Gemurmele?
Danke.
Deine Geschichten sind Erlebnisse.
Liebe Grüße
Amélie
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…und deine Kommentare sind Geschenke, bereichernd und wertvoll… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte. (Und ja, die murmelnden Flusskiesel liefern keine Antworten, aber zumindest sind sie gute Zuhörer.)
Herzliche Grüsse!
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Freundinnen sind wichtig im Leben einer Frau.
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Absolut, ja. Vielen Dank dir fürs Lesen!
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