Einmal, als junges Mädchen, hatte Jana einen Hasen gemalt. Er stand auf zwei Beinen, dieser Hase, ein vermenschlichter Hase, eigentlich eine Häsin, denn sie trug ein Kleid. Diese Häsin, sie hatte sehr lange Ohren, so lang, dass sie bis zum Boden reichten. Wenn die Häsin ging oder lief, trat sie dabei immer wieder auf die langen Ohren und fiel hin. Ganz egal, wie vorsichtig sie sich auch bewegte, ihre anatomische Besonderheit führte wiederholt dazu, dass sie stolperte und stürzte. Das Hinfallen war aber nicht so schlimm, das wusste Jana. Was wirklich weh tat, war das Lachen der anderen. Jana hatte gehofft, dass die Häsin etwas gegen diese körperliche Einschränkung tun könnte, hatte ihr sogar vorgeschlagen, einen kleinen chirurgischen Eingriff in Betracht zu ziehen, um die langen Ohren ein wenig zu kürzen. Doch die Häsin wollte davon nichts wissen und war der Ansicht, dass man sich den Launen der Natur nicht widersetzen sollte. Jana malte der Häsin einen großen Kopfhörer, um Musik hören und damit das Lachen der anderen übertönen zu können, doch die Häsin setzte den Kopfhörer nie auf. Vielleicht mochte sie keine Musik. Schließlich hängte Jana das Bild der Häsin an die Wand ihres Zimmers, und als sie in eine eigene Wohnung zog, legte sie es in eine Kiste, die sie im Keller verstaute.
Kürzlich ist sie erneut umgezogen, und dabei ist ihr auch die Zeichnung der Häsin in die Finger geraten. Ihre Hände zittern ein wenig, während sie das Bild betrachtet. Die Ohren der Häsin sind noch immer so lang, dass sie bis zum Boden reichen, doch die Häsin fällt nur noch selten hin. Sie hat nahezu aufgehört, sich zu bewegen, hockt lediglich in einer Ecke und sieht der Zeit beim Vorüberfließen zu.
Obwohl sie nur noch auf dem Boden sitzt und nicht mehr auf zwei Beinen steht, sieht die Häsin eigentlich noch immer so aus wie damals, als Jana sie gemalt hatte, vielleicht ein wenig älter, vielleicht ein wenig grauer. Umso mehr fällt ihr auf, wie sehr sich die Augen verändert haben. Früher war der Blick voller Unschuld und Wärme gewesen, das wusste Jana genau, denn sie hatte sich große Mühe gegeben mit dem schokoladenbraunen Farbton der Augen. Doch jetzt wirken sie vollkommen dunkel und leer, schwarz und seltsam leblos. Jana zuckt zusammen, aber nicht, weil sie die veränderte Farbe der Augen überrascht. Sondern weil sie den Blick in den Augen der Häsin nur zu gut kennt. Sie sieht ihn in jüngster Zeit ziemlich häufig. Manchmal öffnet sie dann den Spiegelschrank im Badezimmer, um den Blick nicht aushalten zu müssen, doch meistens starrt sie einfach zurück. Sie hat keine langen Ohren. Dennoch stolpert sie immer wieder, fällt nicht selten hin. Sie wünscht sich, dass es einfach wäre. Dass ein kleiner chirurgischer Eingriff genügen würde, oder ein großer Kopfhörer. Doch es ist nicht einfach. Und einen Moment lang beneidet Jana die Häsin. Nicht um die langen Ohren oder ihre Sturheit, sondern darum, einen Grund zu kennen.
Sie zerknüllt die Zeichnung der Häsin, das Rascheln des Papiers klingt so, als würde etwas zerbrechen. Dann setzt sich Jana auf den Boden und sieht der Zeit beim Vorüberfließen zu.

Nicht immer lachen dich die anderen aus, weil oder wenn du anders bist – manchmal schließen sie dich einfach aus, „sehen“ dich nicht mehr und lassen dich vollkommen links liegen. Und dagegen kannst du vielleicht noch weniger machen als gegen ausgelacht zu werden.
Mit Gruß von Clara
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…und nicht selten ist das Ignorieren noch schlimmer (oder zumindest nicht weniger schlimm) als das Auslachen…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Clara, und herzliche Grüsse zurück!
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Dabei sind Hasen so große starke Tiere. Sie sind weder niedlich noch süß oder unschuldig. Ihre Augen sind ernst, gar nicht so vernarredeit wie Menschen Hasen gerne hätten um das was sie wirklich sind, besser zu verstehen. Die zu langen Ohren hätten der Häsin in der wilden Natur den Tod eingehandelt. Weil sie mit den langen Ohren nicht schnell genug vor Jägern hätte weglaufen können. Mein Großvater schrieb in mein Poesiealbum eine Weisheit aus Russland: Das Pferd fürchte von vorne, den Esel von hinten. Den Menschen jedoch von allen Seiten. Gilt auch für defekte Häsinnen. 🙂
Liebe Grüße
Amélie
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Eine weise Weisheit, die dein Grossvater dir hinterlassen hat… Und abermals ein wunderbarer Kommentar, den du hier hinterlassen hast… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück!
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Ob du als gezeichnete Häsin mit langen Ohren oder als wirklicher Junge Segelohren hast, abweichend von der sogenannten Norm, du wirst verhöhnt oder ausgelacht … so sind die Mitlebenden.
Herzliche Grüße vom Finbar
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Je weiter du dich von der Norm-Herde entfernst, desto grösser ist wohl die Gefahr, ja… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und herzliche Grüsse zurück…
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Genau so ist es lieber Disputnik …
Herzliche Abendgrüße vom Finbar
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