Aufblühen.

Im Garten ihres Nachbarn steht eine Fliederpflanze. Sie mag Flieder sehr gern, sie würde auch den Flieder im Garten ihres Nachbarn sehr gern sehr gern mögen, doch die Pflanze ist eingepfercht zwischen vielen anderen Sorten von Grün und kann sich kaum entfalten. Auch schenkt der Nachbar dem Flieder keine Beachtung. Eigentlich mag sie ihren Nachbarn. … Weiterlesen Aufblühen.

Wollen müssen.

Man muss nur wollen, sagt eine Person, die Sofia kennt, also nur rudimentär kennt, eine Peripherbekanntschaft sozusagen. Sofia erinnert sich nur an guten Tagen an den Vornamen dieser Person, und heute will ihr der Vorname nicht einfallen. Sie spielt das Alphabet durch, um so vielleicht herauszufinden, mit welchem Buchstaben der Vorname beginnt, aber sie gelangt … Weiterlesen Wollen müssen.

Die Reibfläche.

Sie schiebt ihren Daumen langsam über das raue Material. Unter ihrer Haut fühlt es sich an wie Schleifpapier, feines Schleifpapier, das man verwendet, um die Flächen und Kanten von Holz möglichst weich und sanft zu machen. Die Reibfläche ist noch unbenutzt, kein Strich stört das Bild, keine Spuren sind zu sehen oder zu spüren. Sie … Weiterlesen Die Reibfläche.

Gnu.

Das Gnu dampft. Ein leichter Nebel steigt vom Körper auf, als hätte man ihn direkt aus einem heißen Ofen gezogen. Warum das Gnu dampft, kann sie sich nicht erklären. Allein die Tatsache, dass ein Gnu vor ihr auf dem Boden liegt, ist ziemlich überraschend. Eigentlich dürfte da kein Gnu liegen, denn Gnus leben im südlichen … Weiterlesen Gnu.

Die Jungfrau Maria.

Maria mochte keinen Tintenfisch essen. Zwar hatte sie noch nie von dieser merkwürdigen Spezialität gekostet, hatte nicht einmal jemanden beim Verspeisen von Tintenfisch beobachtet, aber Maria war trotzdem überzeugt, dass sie Tintenfisch nicht mochte. Das lag gar nicht so sehr daran, dass sie Tintenfischen außergewöhnlich wohlgesinnt war, sie hegte keine besondere Sympathie für diese merkwürdigen … Weiterlesen Die Jungfrau Maria.

Gerda sah ganz anders aus.

Die anderen Mädchen waren die anderen Mädchen. Manche sahen sich sehr ähnlich, manche nicht, manche waren süß, manche nicht, aber eigentlich sahen die meisten Mädchen ganz normal aus, nur Gerda nicht. Gerda sah ganz anders aus. Mit ihren roten Zöpfen hätte sie eigentlich an Pippi Langstrumpf erinnern müssen, doch wenn man bei Gerdas Anblick an … Weiterlesen Gerda sah ganz anders aus.

Plastik.

Manchmal schrumpft die Welt zu einem einzigen Raum, und dieser Raum ist gefüllt mit künstlichen Pflanzen, bunten und grünen Kunststoffgebilden, die versuchen, die Natur nachzuahmen, dabei aber doch nur Plastik sind, entstanden in einer großen Fabrik, in der unzählige Menschen arbeiten, die man nicht kennt, und diese Menschen drücken Knöpfe und fügen Teile zusammen und … Weiterlesen Plastik.

Margeriten.

Sie schaut auf ihre Schuhe, auf die Art und Weise, wie die Schnürsenkel zur Seite hängen. Sie betrachtet die Stelle, an welcher die lederne Zunge des Schuhs endet und ihr Bein beginnt, diese Grenze zwischen der Haut eines toten Tieres und der Haut eines lebendigen Menschen. Es ist seltsam, wie sich alles ineinanderfügt, aber dennoch … Weiterlesen Margeriten.

Grashalmtag.

Manche Tage sind wie die Grashalme auf den Wiesen; jeder gleicht dem anderen, keiner tut sich hervor, keiner drängt sich auf, und will man Unterschiede oder Einzigartigkeiten ausmachen, muss man sehr genau hinschauen, und eigentlich sind nicht nur manche, sondern die meisten Tage Grashalme, darum gibt es wohl so viele Wiesen (und es gibt sehr … Weiterlesen Grashalmtag.

Hugo und das Känguruh (mit h am Ende).

Hugo liest Wolfgang Borchert. Das Känguruh, heißt die Geschichte, und in dieser Geschichte sagt einer ein Gedicht auf. Es war einmal ein Känguruh, das nähte sich den Beutel zu, mit einer Nagelfeile, aus lauter Langeweile. Die Geschichte handelt eigentlich von anderen Dingen, schlimmen Dingen, doch Hugo staunt vor allem über das Wort Känguruh. Früher war … Weiterlesen Hugo und das Känguruh (mit h am Ende).

Placido Domingo.

Der alte Mann hört im Radio, dass Placido Domingo Frauen belästigt haben soll, und er kennt Placido Domingo eigentlich nicht, er kennt Placido Domingo nur von seiner Frau, denn sie mochte Placido Domingo, mochte seine Stimme, hörte ihn häufig singen, und der alte Mann konnte mit diesen Klängen nie viel anfangen, doch sie vertrieben zumindest … Weiterlesen Placido Domingo.

Ein Steinwurf.

Dieser Stein war schon vor mir da, denkt er, und wenn ich dereinst nicht mehr existieren werde, dann wird, ach, egal, er denkt nicht mehr weiter, mag sich nicht länger vor Augen führen, dass sein Dasein irgendwann nicht mehr da sein wird, dass es enden wird, dass sein Tod womöglich nur einen Steinwurf entfernt in … Weiterlesen Ein Steinwurf.

Die alten Männer aus dem Restaurant des Supermarktes.

Sie hocken auf den Stühlen im Restaurant des Supermarktes und schauen mit leblosen Augen auf irgendwelche Punkte im Nichts. Vor ihnen auf den Tischen stehen Biergläser, schon von Anfang an halbleer. Manchmal trinken sie einen Schluck, aber nur einen kleinen, damit das Bier länger hält. Man muss die Dinge dehnen, sonst bleibt die Zeit ein … Weiterlesen Die alten Männer aus dem Restaurant des Supermarktes.

21A.

Dana steigt in ein Flugzeug und schluckt einige Male leer, bis der Hals schmerzt. Sie hat vor nichts und niemandem so große Angst wie vor dem Fliegen. Die Angst hockt nicht nur in ihrem Kopf, sondern breitet sich im ganzen Körper aus, fließt in alle Glieder. Nachdem sie sich auf ihren Platz mit der Nummer … Weiterlesen 21A.

Gleichgültigkeiten.

Er erinnert sich noch genau an jenen Tag. Dicke flockige Wolken hingen am Himmel, ein leichter Dunst lag über dem See, es war warm, ein zaghafter Wind wehte. Es war ein ermüdend normaler Tag, so schien es, und während er am Ufer stand, griff die Normalität auch auf ihn über; er verspürte eine gewisse Gleichgültigkeit, … Weiterlesen Gleichgültigkeiten.

Das Vorspielen.

Ihre Mutter hätte das Richtige zu sagen gewusst. Sie hatte stets die passenden Worte gefunden, wenn Anita sich fürchtete oder traurig war, sogar damals, als Lulu, ihre Katze, von einem Auto überfahren worden war. Anita überlegt, was ihre Mutter in diesem Moment sagen würde, doch ihr fällt nichts ein, keine klugen Sätze, nicht einmal ein … Weiterlesen Das Vorspielen.

Ichs.

Bisweilen entfernt man sich von einer Version des eigenen Ichs so weit, dass man sich in den Erinnerungen kaum mehr zu erkennen vermag, und womöglich kehrt man in Gedanken zurück ins Kinderzimmer, sieht sich um und sucht nach vertrauten Bildern, doch alles bleibt vage und verschwommen, da sind keine greifbaren Formen, da ist keine Klarheit, … Weiterlesen Ichs.

Viersamkeit.

Man kennt sich seit Jahren, da ist jene Vertrautheit, die vieles selbstverständlich macht. Mara heißt eigentlich Maria, aber außer ihrer Mutter nennt sie niemand bei diesem Namen; alle haben akzeptiert, dass sie sich als Mara begreift, vor allem Felix, ihr langjähriger Freund und Vertrauter. Felix hat eine große krumme Nase, ist davon abgesehen aber ein … Weiterlesen Viersamkeit.