Manche Tage sind wie die Grashalme auf den Wiesen; jeder gleicht dem anderen, keiner tut sich hervor, keiner drängt sich auf, und will man Unterschiede oder Einzigartigkeiten ausmachen, muss man sehr genau hinschauen, und eigentlich sind nicht nur manche, sondern die meisten Tage Grashalme, darum gibt es wohl so viele Wiesen (und es gibt sehr sehr viele Wiesen, ausser vielleicht in den grossen Betonstädten; in den grossen Betonstädten muss man ein anderes Sinnbild bemühen), aber einige wenige Tage sind anders, sind keineswegs Grashalmtage, und als sie am Morgen jenes ganz bestimmten Tages erwacht, ahnt sie bereits, dass dies kein Grashalmtag werden würde, denn da ist ein Belag auf ihrer Zunge, der noch nie da war, ein merkwürdiger Schleim, und im Bad spuckt sie ihn ins Waschbecken und beobachtet, wie er langsam zum Abschluss wandert, dann spült sie ihn hinunter und blickt in den Spiegel, direkt in ihre Augen, und diese Augen sind in der Mitte schwarz, dann braun, dann weiss, das war schon immer so, das war schon so, als sie zum ersten Mal in einen Spiegel geschaut hat, doch heute bemerkt sie eine Veränderung, denn dort, wo die Regenbogenhaut in die Lederhaut übergeht, und sie weiss, dass die Stelle Limbus heisst, obwohl sie nicht mehr weiss, warum sie es weiss, also dort, beim Limbus, hat sich ein Fleck gebildet, leicht gelblich und nahezu sternförmig, und sie bewegt das Auge hin und her, dreht es nach oben und nach unten, doch der Fleck bleibt am gleichen Fleck, und weil sie daran nichts ändern kann, zuckt sie mit den Schultern und wäscht ihr Gesicht mit kaltem Wasser und geht in Küche, macht sich einen Kaffee, aber der Kaffee schmeckt ungewohnt schokoladig, die erste Zigarette des Tage steckt sie sich falsch herum in den Mund, der Wasserhahn tropft, und auch sonst zeigen sich überall kleine Transformationen, eine Zimmerpflanze am Wohnzimmerfenster ist offenbar eingegangen und lässt die Blätter hängen, und als sie aus dem Fenster schaut, malt die aufgehende Sonne rote Wolkenschlieren an den Himmel, und später beim Duschen duftet das Duschgel ungewohnt blumig, die Zahnpasta schmeckt frischer als sonst, und obwohl sie sich gleich dezent schminkt wie an anderen Tagen, wirken ihre Gesichtszüge wie jene einer fremden Frau, und mit diesen Gesichtszügen einer fremden Frau geht sie hinaus und hinein in die Gassen der Stadt, hält ihren Rücken gerade und ihren Blick auf Augenhöhe, und aus jedem Gesicht, dem sie begegnet, kann sie die Erwartung und Spannung herauslesen, jedes Gesicht erzählt davon, dass Einschneidendes bevorsteht und sich die Pfeiler der Welt – ihrer Welt – grundlegend verschieben werden, ein alter Mann lächelt sie grundlos und zahnlos an, ein kleines Kind nennt sie Mama, der dunkelbraune Dackel einer betagten Dame bellt sie mit fletschenden Zähnen an, und als sie sich im Stadtpark auf eine Holzbank setzt, steckt sie sich erneut eine Zigarette falsch herum in den Mund, und all diese Zeichen, diese merkwürdigen Signale, bringen sie ins Wanken, sie fühlt sich seltsam wacklig auf den Beinen, glaubt sich in der Schwebe und zwischen den Dingen, gerade so, als sei sie nicht mehr hier, aber auch noch nicht dort, und mit unsicheren Schritten bewegt sie sich weiter durch die Zeit, und irgendwann schwindet das Licht, und sie geht nach Hause, matt und müde vom vielen Schauen und Beobachten, die Augen brennen, der Hals ist trocken, also trinkt sie ein Glas Wein und gleich noch eines, später ein weiteres, und schliesslich beginnen die Formen und Konturen um sie herum zu wandern und zu vibrieren, also hört sie auf, und während sie sich die Zähne putzt, blickt sie sich in die Augen, und dort, wo die Regenbogenhaut in die Lederhaut übergeht, und sie weiss, dass die Stelle Limbus heisst, obwohl sie nicht mehr weiss, warum sie es weiss, also dort, beim Limbus, hatte sie am Morgen einen gelblichen Fleck entdeckt, doch jetzt ist der Fleck nicht mehr an jenem Fleck, der Fleck ist weg, und sie denkt an die Grashalme auf den Wiesen, und sie stellt sich vor, wie es wäre, auf einer Wiese zu liegen, einfach nur zu liegen, auf dem Rücken, die Grashalme unter sich spürend, und dann geht ihr jene Redewendung durch den Kopf, über Menschen, die das Gras wachsen hören können, und sie fragt sich, ob das wirklich möglich ist, ob man tatsächlich hören kann, wie ein Grashalm sich aus der Erde drängt, und irgendwie bedauert sie es, dass sie es bisher noch nie versucht hat.

Grashalmtage sind meist auch Sommertage. Und Sonne in dunklen Zeiten ist ja immer gut…
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Das stimmt, und dunkle Zeiten gibt’s ja eh genug… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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