Er stellt sich vor sie hin. Sein Gesicht ist ganz nah bei ihrem, ihre Füsse berühren sich beinahe, und sie spürt seine Wärme, spürt die Präsenz seines Körpers. Sie registriert, wie sich kleine Vibrationen in ihrem Innern bilden, ein ungewohntes Ziehen an einigen Stellen, ein Schieben an anderen. Der Moment löst sich aus der Zeit, drängt alles zur Seite. Nur er steht noch da, dieser fremde und dennoch vertraute Mann, vor ihr, ganz nah. Er schaut in ihre Augen. Sie schaut zurück in seine. Wenn sie jetzt nichts sagt, und er jetzt nichts sagt, dann dauert der Moment ewig an, denkt sie und sagt nichts. Er schweigt ebenfalls, doch der Moment geht dennoch vorüber. Er hebt seine Hand, bewegt sie hin zu ihrem Gesicht. Fast berührt er sie, so nah ist die Hand, doch dann lässt er sie unvermittelt sinken. Er dreht seinen Kopf kurz weg, dreht ihn zurück, blickt ihr wieder in die Augen und räuspert sich.
«Du hast da eine Wimper.»
«Was?» fragt sie und findet, dass da zurecht Verwunderung in ihrer Stimme mitschwingt.
«Du hast da eine Wimper. Da, unter dem Auge.»
«Ach ja? Dann darf ich mir etwas wünschen, oder?»
«Warum denn?» Jetzt ist er es, der Verwunderung in den Klang der Stimme mischt.
«Das ist einfach so», gibt sie zurück.
«Was ist einfach so?»
«Wenn eine Wimper sich löst, kann man sie auf einen Finger legen, sie wegblasen und sich etwas wünschen, das dann in Erfüllung geht.»
«Wer sagt denn so was?»
«Keine Ahnung. Es ist einfach so.»
«Das ist doch Quatsch!»
«Was?» ruft sie aus, und jetzt ist es nicht mehr Verwunderung, die ihre Stimme auflädt. Sie mag nicht, wie er klang, als er das Wort Quatsch sagte. Sie mag nicht, wie er dabei aussah. Er hat sich verändert. Innert Sekunden.
«Solche Sachen. Die sind Quatsch. Sternschnuppen. Hufeisen. Wimpern. Die erfüllen keine Wünsche. Die bringen kein Glück. Einen Scheiss bringen die.»
«Was ist denn mit dir los?» will sie wissen, obwohl sie es gar nicht wirklich wissen will.
«Nichts ist mit mir los. Ich glaube einfach nicht an derartigen Quatsch, das ist alles.»
Sie blickt ihm unvermindert in die Augen. Er ist einen Schritt zurückgetreten, doch die Distanz, die entstanden ist, misst sehr viel mehr als nur diesen knappen Meter.
«Na dann», beginnt sie, weiss aber nicht, welche Worte sie darauf folgen lassen soll.
«Ist doch egal», meint er. Sie ist nicht sicher, was er damit meint.
«Ja, egal», gibt sie zurück. Sie ist nicht sicher, was sie damit meint.
Er versucht, sie zu küssen, doch als ihre Lippen sich berühren, zuckt sie zusammen. Sie dreht den Kopf weg.
«Tut mir leid, ich kann nicht.»
«Du kannst nicht?» fragt er irritiert. Seine Stimme klingt gleich wie zuvor, als er das Wort Quatsch sagte.
«Ich kann nicht. Ich will nicht. Und eigentlich tut es mir nicht wirklich leid.»
«Ist es wegen der Wimper und dem Quatsch?»
«Nicht wegen der Wimper. Aber ja, wegen dem Quatsch. Irgendwie.»
Er will sie überreden, drängt darauf, die Sache zu vergessen und einfach eine gute Zeit zu haben, wie er sagt, doch sie schüttelt den Kopf, definiert die gute Zeit mittlerweile anders, und schiebt ihn so lang von sich weg, bis er sich ihr nicht wieder annähert.
Als er gegangen ist, stellt sie sich vor den Spiegel. Die Wimper ist noch da. Sie legt sie auf die Fingerkuppe, betrachtet ihre gekrümmte Form, ihre Einfachheit. Dann atmet sie ein. Und pustet.

Und danach war alles anders…
Er brachte einen Mißton in die schöne nahe Stimmung, gerade noch früh genug …
Liebe Grüße im Neuen Jahr von Bruni
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Ja, manchmal können auch kleine Misstöne eine grosse Wirkung haben… Vielen Dank dir fürs Lesen und deine Worte, liebe Bruni, und herzliche Grüsse ins neue Jahr…
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Schöner Text, gefällt mir sehr. Des Weiteren hoffe ich ebenso sehr, dass du gut ins Jahr 2020 kamst und es auch gut startete
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Das freut mich sehr, vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte. Der Sprung ins neue Jahr ist einigermassen schadlos überstanden, danke. Ich wünsch dir ebenfalls einen guten Start (und weiteren Verlauf) des Jahres… Herzliche Grüsse…
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Tja, so schnell kann sich die Wetterlage ändern und es merklich kühler werden
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So ist es, ja… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Herzliche Grüsse…
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Feines Wimperngespräch.
So eingetönt, kann es wehtun …
Herzliche Grüße vom Finbar
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Vielen Dank dir, lieber Finbar!
Herzliche Grüsse zurück und nachträglich einen guten Start ins neue Jahr!
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Dankeschön, lieber Disputnik, und dito! 🌟🌟🌟
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