Es ist, wie es ist, sagt der alte Mann und faltet die Hände; er hat noch nie gebetet und wird jetzt nicht mehr damit anfangen. Er sitzt in seinem Sessel und lässt die Schultern hängen. Schräg vor ihm steht das Sofa, auf dem schon lange niemand mehr sass, und unter dem Sofa bemerkt er den Schwanz. Der alte Mann hebt seinen alten Körper aus dem Sessel und kniet sich hin; er hat noch nie gebetet und wird jetzt nicht mehr damit anfangen.
Er neigt den Kopf und schaut unter das Sofa. Nun sieht er den Schwanz ganz deutlich, und auch den Rest der Maus. Es ist keine echte Maus, natürlich nicht. Es ist ein Katzenspielzeug, aus Filz und Wolle. Die Maus liegt schon lange da, schon sehr lange, zweifellos, doch sie ist ihm noch nie zuvor aufgefallen. Er überlegt, seit wann die Katze tot ist, und kommt nach einigen Minuten zur Einsicht, dass es keine Rolle spielt. Es ist, wie es ist, sagt der alte Mann.
Mit langsamen Bewegungen holt er die Maus unter dem Sofa hervor, nimmt sie in die Hand, dreht sie zwischen seinen Fingern. Bevor die Katze starb, war sie lange Zeit alt und hat nicht mehr gespielt. Früher, sehr viel früher, als die Katze noch spielte, hatten die Farben der Welt eine andere Temperatur.
Er versucht, wieder aufzustehen, doch jemand rammt ihm einen Dolch in den Rücken. Er stöhnt auf und verharrt einige Sekunden lang reglos, mitten in der Bewegung. Eigentlich könnte er die Schmerzen aushalten und sich aufrappeln, aber in diesem Moment sieht er darin keinen grossen Sinn. Er hat keine Eile, er muss nichts beweisen. Also legt er sich auf den Boden, auf den alten Teppich. Er zieht den muffigen Geruch des Teppichs in seine Nase und denkt sich nichts dabei.
Nach einer Weile hält er sich die Maus vor das Gesicht, blickt ihr in die schwarzen Glasaugen. Sie sieht einer richtigen Maus gar nicht unähnlich, und er stellt sich vor, sie wäre tatsächlich echt, da wäre Leben in ihr. Sie könnte eine Freundin sein, eine Gefährtin zumindest. Sie könnte durch die Wohnung rennen und hin und wieder zu ihm kommen, auf seinem Körper herumklettern und neugierig mit ihrer kleinen Schnauze schnüffeln. Die Vorstellung lässt ihn lächeln.
Er fragt sich, was die Maus in ihm sehen würde, was sie von ihm halten würde. Dieser Gedanke, er wischt das aufkeimende Lächeln auf seinen Lippen gleich wieder fort. Ein unangenehmes Gefühl kriecht in seinen Hals, und er bemüht sich, es wegzuräuspern.
Einige Minuten später steht er doch noch auf, dem Dolch im Rücken zum Trotz. Der Schmerz dringt noch tiefer vor, fliesst in seine Beine, und er lässt sich in den Sessel fallen, presst seine Zähne zusammen und wartet, bis in seinem Körper wieder ein wenig Ruhe einkehrt. Eigentlich müsste er zum Arzt, müsste sich behandeln und therapieren lassen, müsste Medikamente nehmen oder sogar eine Operation in Betracht ziehen. Eigentlich müsste er, aber er mag nicht. Es ist, wie es ist, sagt der alte Mann. Sein Blick flieht aus dem Raum, fällt durch das kleine Fenster und trifft auf das Dach des Kirchturms auf dem Hügel; er hat noch nie gebetet und wird jetzt nicht mehr damit anfangen. Stattdessen umklammert er die Maus mit aller Kraft, drückt heftig zu, bis die Hände schmerzen. Dann lockert er den Griff. Doch die Maus, die Maus lässt er nicht los.

Die Einsamkeit dieses alten Mannes springt einem fast ins Gesicht und es tut weh, das zu lesen, so, als wäre die Geschichte Realität (Sie ist es ja auch oft genug in ähnlicher Weise)
Liebe Grüße von Bruni
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Ja, sie ist wohl in Variationen durchaus häufig, diese Geschichte, leider. Vielen Dank dir fürs Lesen, liebe Bruni, und herzliche Grüsse zurück…
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Ein sehr berührender Beitrag, danke dir und viele Grüße, Annette
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte! Herzliche Grüsse zurück…
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Das Wesen der Einsamkeit ist hier so deutlich, dass ich ein Schnurrecho zu vernehmen meine, so greifbar wie etwas zum Berühren wie etwas Erstarrtes, ein Katzenspielzeug vielleicht. Etwas, das Vergangenheit (be-)greifbarer macht.
Liebe Grüße,
Amélie
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Schön, sehr schön, dass sich beim Lesen sogar ein Schnurrecho andeutete… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine wunderbaren Worte… Herzliche Grüsse
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„Früher, sehr viel früher, als die Katze noch spielte, hatten die Farben der Welt eine andere Temperatur.“ Was für ein schöner Satz.
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Was für ein schöner Kommentar! Vielen lieben Dank!
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