Maria mochte keinen Tintenfisch essen. Zwar hatte sie noch nie von dieser merkwürdigen Spezialität gekostet, hatte nicht einmal jemanden beim Verspeisen von Tintenfisch beobachtet, aber Maria war trotzdem überzeugt, dass sie Tintenfisch nicht mochte. Das lag gar nicht so sehr daran, dass sie Tintenfischen außergewöhnlich wohlgesinnt war, sie hegte keine besondere Sympathie für diese merkwürdigen Tiere. Doch der Gedanke, ihre Arme in ihren Mund zu stecken und zu zerkauen, löste bei ihr ein deutlich spürbares Gefühl des Ekels aus. Mit Schrecken dachte sie daran, wie die Saugnäpfe sich an ihrer Speiseröhre hafteten, und als sie las, dass manche Menschen die Konsistenz von Tintenfischen mit Gummi verglichen, war Maria der Vorstellung, etwas Derartiges in den Mund zu nehmen, noch viel weniger zugetan.
Ganz ähnlich wie mit den Tintenfischen verhielt es sich mit dem Sex. Maria verspürte kein Verlangen danach, dass jemand dort unten bei ihr etwas tat, hatte kein Interesse daran, dass jemand auch nur einen Finger in sie einführte, geschweige denn einen Penis. Allein die Vorstellung, dass ein Mann seinen Körper auf ihren hievte und in wild kopulierende Zuckungen verfiel, löste bei ihr eine ungeahnte Beklemmung aus, es widerstrebte ihr, auch nur daran zu denken. Einmal hatte sie einen Sexfilm gesehen, zumindest einige Minuten davon, und die verkrampften Gesichtsausdrücke, welche die Männer beim Sex zeigten, fand sie zu gleichen Teilen eklig und lächerlich. Auch wenn das Leben wohl kein Sexfilm war: Einem derartigen Szenario wollte sie nicht wirklich beiwohnen müssen.
So kam es, dass Maria im Alter von dreißig Jahren zwar beruflich als Unternehmensberaterin erfolgreich und abgesehen von einer Laktoseintoleranz durchaus gesund war, einen liebenswerten Freundeskreis um sich gezogen hatte und keine toxischen Beziehungsgeflechte zu befürchten brauchte, jedoch sowohl in tintenfischiger als auch in sexueller Hinsicht noch Jungfrau war. Wenige Tage, nachdem sie ihr drittes Lebensjahrzehnt vollendet hatte, traf Maria bei einem sehr langweiligen Fachsymposium über Herausforderungen in der Personalentwicklung eine alles andere als langweilige Frau namens Johanna. In den dreißig Jahren ihres Lebens hatte Maria sehr viele Menschen gesehen, die Hälfte davon weiblich, doch keiner dieser Menschen hatte das, was Johanna hatte. Das, was Johanna hatte, war für Maria so neu und fremd und faszinierend und begeisternd, dass sie keine Worte dafür fand. Sie versuchte, es sich selbst mit Begriffen wie Ausstrahlung oder Charisma oder Charme oder Zauber zu erklären, doch nachdem sie alle möglichen Definitionen ausgeschöpft hatte, verstand sie noch immer nicht, was das war, was Johanna hatte und alle anderen Menschen nicht.
Maria traf sich einige Male mit Johanna, und bei jeder Begegnung spielte ein Streichorchester in ihrer Brust die schönsten Melodien, die Maria jemals gehört hatte, und beim fünften Treffen, das in einer Ecke eines spanischen Restaurants stattfand, hielt sie diese ausufernde Begleitmusik kaum mehr aus. Maria öffnete ihren Mund, und heraus purzelten etwa die Sätze, die auch am Ende des vorhergehenden Abschnitt stehen, also jene über das, was Johanna hatte und das für Maria so neu und fremd und faszinierend und begeisternd war, dass sie keine Worte dafür fand und dass auch Begriffe wie Ausstrahlung oder Charisma oder Charme oder Zauber keine Klarheit brachten und sie noch immer nicht verstand, was das war, was Johanna hatte und alle anderen Menschen nicht, aber dass sie einfach nur froh und dankbar war, dass Johanna es hatte, und vor allem, dass sie hier war, ihr gegenüber, Auge in Auge. Johanna lächelte und wollte etwas sagen, doch in jenem Moment brachte der Kellner das Essen, und eben jenem Moment lernte Maria einen spanischen Ausdruck, ohne dass jemand ein Wort sprach. Denn Johanna hatte bei der Bestellung «Pulpo» gesagt, und Maria hatte nicht nachgefragt, worum es sich dabei handelte, sondern war damit beschäftigt gewesen, die Konturen in Johannas Gesicht zu bestaunen.
Und jetzt sitzt die Jungfrau Maria da, an einem Tisch in einem spanischen Restaurant, gegenüber von Johanna, die etwas hat, was sonst kein Mensch hat, zwischen ihnen zwei Teller, und in einem dieser Teller eine Portion Tintenfisch, und Maria starrt auf die merkwürdigen Saugnäpfe, als läge darin eine Erklärung oder ein Geheimnis oder ein Rätsel oder alles zusammen. «Willst du auch probieren?» fragt Johanna, und Maria weiß, dass es jetzt, nach dreißig Jahren, nur zwei mögliche Antworten gibt. Und sie ist sich sicher, welche sie wählen soll. Ziemlich sicher.

Lieber Geschichtenmagier, wie seltsam…seit einigen Monaten beschäftige ich mich intensiv mit Tintenfischen. Geliebt habe ich diese faszinierenden Tiere allerdings schon als Kind. Sie schmecken über ihre Haut und jeder ihrer Arme hat eine eigene Steuerung. In Sekundenbruchteilen verändern Gefühle und Instinkte ihre Farben und Muster. Sie haben einen Schnabel wie ein Vogel und sind doch Meereswesen. Früher aß ich auch Tintenfischringe, diese TK-Dinger. Die schmecken leicht fischig und kauen sich wirklich zäh wie Gummi. Heute würde ich sie nicht mehr essen wollen. Einen echten Kraken beobachten gerne, mal einen Kraken berühren dürfen, das wäre was…
Es ist das Wesen eines Menschen, das so betörend sein kann wie ein Wunschkonzert mit dem „Streichorchester in der Brust“.
Liebe Grüße
Amélie
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Liebe Améli, ein schöner Zufall, dass der Text ein wenig zu deiner neuen Leidenschaft passt… Tintenfische (und ein grosser Grossteil der übrigen Geschöpfe) sind wirklich faszinierend (und schmecken, richtig zubereitet, auch gut, sofern man sie esse mag, natürlich)… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück!
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Lieber spät als nie.
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Genau! Vielen Dank dir fürs Lesen!
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ja, auf geht’s, das Leben beginnt!
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Achtung, fertig, los!
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