Sie hocken auf den Stühlen im Restaurant des Supermarktes und schauen mit leblosen Augen auf irgendwelche Punkte im Nichts. Vor ihnen auf den Tischen stehen Biergläser, schon von Anfang an halbleer. Manchmal trinken sie einen Schluck, aber nur einen kleinen, damit das Bier länger hält. Man muss die Dinge dehnen, sonst bleibt die Zeit ein Brachland.
Wenn eine schöne Frau vorübergeht, heben sie den Kopf einen Moment lang. Einige schauen gelangweilt, einige lüstern, einige wehmütig, doch allen Blicken bleibt die Trägheit erhalten, sie geht nicht mehr weg, die Trägheit, und wenn die Frau aus den Blickfeldern verschwunden ist, sacken die Köpfe wieder ab. Einer trinkt einen weiteren Schluck Bier, ein anderer dreht lediglich sein Glas ein wenig zur Seite, ohne zu erwarten, dass sich dadurch irgendetwas ändert.
Irgendwann lächelt einer, einfach so, er weiß offenbar selber nicht genau, woher sein Lächeln rührt. Das Gesicht wird ganz hell und wach, wie ein autonomes Lebewesen. Es klingt, als würde er eine Melodie summen, ganz leise. Doch alsbald hört er wieder damit auf, das Lächeln schwindet und verschwindet, das Gesicht wird wieder dunkel und grau.
Dann könnte Folgendes geschehen: Einer der alten Männer im Restaurant des Supermarktes steht auf, ganz langsam und gewohnt träge, aber mit einer ungewöhnlichen Bestimmtheit, beinahe so, als folge er einer Eingebung, einer Vision. Er hebt seinen Arm, ballt die Hand zur Faust und schaut sich um. In seinen Augen leuchtet Erwartung auf, eine Art Hunger. Die anderen Männer bleiben vorerst unbeirrt sitzen und starren auf ihre Biergläser, doch dann regt sich ein weiterer Mann, hebt seinen Kopf und schaut den so untypisch im Raum stehenden Mann an. Einige Sekunden lang sucht er nach einer Erklärung, dann findet er sie oder gibt sich damit zufrieden, keine zu benötigen. Er steht ebenfalls auf, so abrupt, dass sein Stuhl nach hinten kippt. Bald tut es ihm ein weiterer Mann gleich, dann noch einer, und noch einer, und noch einer. Schließlich stehen alle alten Männer im Restaurant des Supermarktes vor ihren Tischen und recken die Faust in die Höhe. Jener, der zuerst aufgestanden ist, sagt mit lauter und brummiger Stimme Los! Dann setzen sich die Männer in Bewegung, zunächst nur langsam und vorsichtig. Doch mit jedem Schritt wirken sie mutiger und entschlossener, ihre Körper werden dynamischer und überraschend gelenkig. Einer geht zur Blumentheke und kauft einen Strauß Rosen, nur um ihm der sprachlosen Verkäuferin zu schenken. Ein anderer lässt ein hohes Jauchzen ertönen. Ein kleiner dünner Mann umarmt einen jungen Supermarktmitarbeiter, der mit dieser Art der Zuneigung nur mühsam zurechtkommt und sich sichtlich unwohl fühlt. Einige der alten Männer laufen durch die Gassen des Supermarktes, schnappen sich Kekse und Schokoladenriegel aus den Regalen. Einer klettert in einen Einkaufswagen und wird von einem anderen Mann geschoben. Eine kleine Gruppe geht durch die Schiebetür nach draußen und hinein in den kleinen Park mit Spielplatz. Dort schaukeln die Männer, versuchen mit schallendem Lachen, ihre dicken Hintern die enge Rutschbahn hinunterzubewegen, und rennen wie kleine Kinder über den Rasen. Eine alte Frau, die im Park auf einer Holzbank sitzt, schüttelt den Kopf, doch nachdem einer der Männer ihr ein Gänseblümchen überreicht, steht sie ebenfalls auf und läuft mit leichten Schritten zur Schaukel. Im Innern des Supermarktes hat sich einer der alten Männer derweil eine Spielzeuggitarre gegriffen und singt Lieder von den Beatles und von Harry Nilsson. Einige klatschen rhythmisch mit, einige essen einen Apfel oder eine Zimtschnecke, einige schauen sich lediglich mit wachen Augen um. Der alte Mann, der den Anfang machte, verteilt Wunderkerzen an die anderen Männer. Auf sein Zeichen zündet jeder Einzelne seine Wunderkerze an, und dann stehen sie da, die alten Männer aus dem Restaurant des Supermarktes, mit den funkensprühenden Wunderkerzen in ihren Fingern und einem großartigen Leuchten in ihren Augen.
Das alles könnte geschehen. Aber ziemlich wahrscheinlich geschieht es nicht wirklich. Wahrscheinlich hocken die alten Männer unverändert auf den Stühlen im Restaurant des Supermarktes und schauen mit leblosen Augen auf irgendwelche Punkte im Nichts. Doch vielleicht lächelt irgendwann einer von ihnen kurz auf, und vielleicht stellt er sich in diesem Moment vor, wie es wäre, eine Wunderkerze anzuzünden. Womöglich hört er in seinem Hinterkopf den Song In My Life von den Beatles. Und summt ganz leise mit.

Deine Geschichte ist deshalb so gute Geistmedizin, weil sie ob vor das Wohl stellt und die Möglichkeit einer Möglichkeit in Aussicht stellt, sei sie auch noch so fern.
Morgen treffe ich einen Klassenkameraden, der seit achtzehn Jahren in der Schweiz als Wahlberner lebt.
Wir sind die Schweine im Weltall gewesen und wehe, der erinnert sich nicht daran, dass er der Commander war und ich….
…ach uik…🐷👠…
Danke für diese wunderbare Story.
Ich geh jetzt jedenfalls schaukeln…
Und Du so…?
Liebe Grüße
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…ich setze mich zu meinen Freunden im Restaurant des Supermarktes und plane den Aufstand.
Ja, die Möglichkeit einer Möglichkeit eröffnet viel mehr Raum für Geschichten (und Leben) als die Unmöglichkeit derselben…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und viel Spass dann beim Klassenkameradentreffen…
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… man kann sich auch vertun, wenn Leute angeblich immer so herum sitzen und sich zu langweilen scheinen…und wenn man sich dann zu ihnen setzt, beginnen sie plötzlich, Dir ihre Beobachtungen zu erzählen und gute Beobachter wissen mehr als andere, die der Wirklichkeit auf den ersten Blick noch nicht zu Misstrauen gelernt haben.
Und meistens ist es so wie Du es beschreibst: ein kurzes Aufblicken und dann…tja, das alte Pantherbild von Rilke ist aktueller denn je… beim Lesen deiner Geschichte musste ich sofort daran denken…ein Bild geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein. Wer sagt schon, dass man nicht auch sitzend in seinem Käfig herumpanthern kann?
Schönes Wochenende✨
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…hinter tausend Stäben keine Welt.
Ja, die guten Beobachter wissen wohl mehr, ganz sicher jedoch sehen sie mehr von der Welt und vom Leben, und das ist doch auch Reichtum, ein besonders schöner…
Nochmals lieben Dank für deine Worte, und auch dir ein wunderschönes Wochenende…
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Das wäre wirklich eine wunderbare Realität, aber wir alle würden komisch gucken, wetten?
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Das würden wir wohl, ja. Komisch gucken können wir sowieso ziemlich gut…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und herzliche Grüsse…
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Das war ja ein auf und ab der Gefühle.
Mitten drin musste ich lachen bei der lustigen Vorstellung auf dem Spielplatz.
Dankeschön, fürs hineinziehen in die Geschichte, Disputnik.
LG, Nati
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Schön, das freut mich sehr! Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und Lachen und für deine Worte…
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Sehr gerne. Bei solchen Geschichten geht es gar nicht anders.
Sehr lebendig beschrieben.
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Vielen lieben Dank nochmals…
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