Mindestens einmal pro Woche fährt Anja ans Meer. Obwohl, sie fährt nicht wirklich, der Weg ist nicht das Ziel, der Weg spielt keine Rolle. Sie ist einfach da, am Meer, ganz allein, die Luft ist salzig, der Horizont ist leicht gewölbt. Sie kann entscheiden, welche Stelle sie aufsucht, sie kann wählen, ob sie im Sand oder auf einem Felsen steht, kann sogar das Wetter beeinflussen, doch in der Regel macht sich Anja darüber gar keine Gedanken, akzeptiert einfach, was gerade da ist.
Hin und wieder erklimmt sie auch Berge, doch das Meer ist ihr lieber. Manchmal ist Anja im Wald und begegnet einem Reh. Es ist immer das gleiche Reh, davon ist sie überzeugt. Dann wieder schwimmt sie in einem glasklaren Bergsee, ohne zu frieren. Einmal geht sie zu einem Bauern und zieht ein Kalb aus der Mutterkuh. Das Kalb ist warm und glitschig. Anja denkt daran, dass sie selbst ebenfalls einst warm und glitschig gewesen sein muss, und dann fragt sie sich, wer sie aus der Mutter gezogen hat.
Sie kann überall sein, jederzeit. Eines Tages besucht Anja das Dorf Lambach, zu jener Zeit, in welcher Hitler dort wohnte. Als sie den kleinen Adolf entdeckt, lockt sie ihn zu einem kleinen Waldstück und erschlägt ihn mit einem großen Stein. Sie ist erstaunt, wie leicht es ihr fällt, einen Menschen zu töten, ein Kind noch dazu, und einen Moment lang bereut sie es, Hitler erschlagen zu haben. Vielleicht werden die Dinge dadurch gar nicht besser. Sie besucht Lambach kein weiteres Mal, sondern fährt lieber wieder ans Meer.
Anja tanzt in einem Club, den sie nicht kennt, und spürt die Musik in ihren Eingeweiden. Während sie sich nahezu schwerelos bewegt, schaut sie sich um, doch da ist niemand, mit dem sie tanzen wollen würde. Alle Leute im Club wirken seltsam seelenlos, sind grau und staubig. Das Tanzen dieser öden Körper gleicht eher einem Wanken, ein stoisches Hin und Her. Niemand scheint sie zu beachten. Als sie einem Mann absichtlich auf den Fuß steht, reagiert er nicht, sondern wankt unbeirrt weiter hin und her. Anja tanzt immer heftiger, immer energischer, bis irgendwann die Musik verstummt und sie erschöpft zusammenbricht.
Sie baut sich ein Baumhaus, weit über dem Erdboden. Sie setzt sich in das Klassenzimmer ihrer Lieblingslehrerin und schaut zu, wie deren Locken über den Wollpullover fließen. Sie fliegt zum Mond und blickt von dort zurück zur kleinen Erde. Mitunter aber ist Anja verwirrt, dass sie einerseits die Grenzen von Raum und Zeit außer Kraft zu setzen vermag, sich andererseits an gewissen Tagen kaum aus dem Haus wagt. Dann ist sie jeweils froh, wenn es regnet und sie sich selbst einreden kann, dass eben dieser Regen sie davon abhält, ins Freie zu gehen. Häufig setzt sich dann auf ihr kleines Sofa und fährt ans Meer.
Manchmal bleibt Anja auch einfach auf dem Sofa sitzen und betrachtet ein Foto, das sie mit ihrer Mutter zeigt. Sie stehen beide am Meer. Anja ist noch klein, und die Mutter ist wunderschön, trotz einer reichlich skurrilen Frisur. Anja fragt sich, wie die Welt außerhalb des Fotos ausgesehen haben mochte. Doch sie kann sich nichts ausmalen, kann die Linien nicht über den Bildrand ziehen, kann die Szene nicht weiterdenken. Sie sucht nach dem Salz in der Luft, doch alles, was sie findet, ist ein salziger Geschmack im Mund. Anja denkt an das warme und glitschige Kalb und fragt sich, wie es ihm wohl geht.

Lieber Ralf,
es fällt mir wirklich niemand ein, der unter dem Titel „Hitler töten“ einen derartig zauberhaften Text schreiben könnte, wie Du es vermagst.
Es ist mir immer wieder eine große Vorfreude, wenn die Information von einem neuen „Disputnik – Text“ in meinem mailfach ankommt… und noch größer ist das Vergnügen, Deine Texte zu lesen.
Musste ich nur mal kurz loswerden. Und ein sehr großes DANKE dazu!
Liebe Grüße
von Ryka
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Oh, das freut und berührt mich grad sehr, vielen lieben Dank dir. Eben, ich hab dir zu danken, fürs Lesen (auch wenn Hitler getötet wird) und für deine Worte!
Herzliche Grüsse zurück!
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oh, der Titel hat weniger mein Mitgefühl angeregt (das gilt den Opfern faschistischer und nationalistischer Gewalttaten, nicht den Tätern bzw. Anstiftern) als vielmehr meine Neugier entfacht. Wenn ich nur so irgendwo den Titel lesen würde: „Hitler töten“, dann würde ich eher einen Text erwarten, der in die Richtung eines politischen Manifests geht. Na, und dann kommt da so eine zauberhafte, versponnene Feengeschichte von einem glitschigen kleinen Kalb das staunend durch die Welten fliegt… das ist mir mitten ins Herz geglitscht…
Liebe Grüße
Ryka
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Das freut mich sehr, dass du dich von Hitler nicht hast abhalten lassen, das kleine Kalb in dein Herz zu lassen. Vielen lieben Dank dir dafür, fürs Lesen und für deine Worte!
Herzliche Grüsse zurück
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Tja, viiiiel zu spät wurde er getötet, viel zu spät …
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Kennst du den Roman «Making History» von Stephen Fry? Da wird Hitler nicht getötet, sondern seine Geburt verhindert. Besser wurde die Welt (im Roman) dadurch aber nicht…
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… sie wäre ja auch ohne Hitler usw. schlimm genug!
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Oh ja, es gibt fürchterlich viele fürchterliche Menschen.
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Davon war Hitler nur die Spitze dieses Fürchterlichberges!
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…und er scheint nicht kleiner zu werden…
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… eher immer größer …
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(Ich stimme zu, aber «Gefällt mir» anklicken mag ich hier dann doch nicht. Abgesehen davon: Danke dir fürs Lesen, lieber Finbar!)
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(Das kann ich gut verstehen, lieber Disputnik.
Das Lesen deiner Posts ist für mich stets ein ganz besonderer Leckerbissen!)
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(Nochmals lieben Dank!)
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