Während Iris in ihrem Bett liegt und schläft, träumt sie davon, dass sie in ihrem Bett liegt und wach ist. Im Traum sieht sie, wie ihre Hand über ihren Körper gleitet. Viel mehr bleibt von diesem Traum nicht zurück, als Iris am nächsten Morgen erwacht, nur dieser Moment, mit ihrer Hand, ihrem Körper, ihrer Haut, ihrem Bett. Merkwürdig ist, dass es ein Bett war, das ihr fremd ist, ein Bett mit Metallrahmen und hohen Eckpfosten, und dennoch weiß sie genau, dass es ihr eigenes Bett war. Noch merkwürdiger war die Haut, die zweifellos ihre Haut war, aber plötzlich von Muttermalen übersät zu sein schien, ganz anders als sonst. Am merkwürdigsten war jedoch ihre Hand, die zweifellos ihre eigene Hand war, aber sechs Finger aufwies. Bei sechs Fingern gibt es keine Mitte, mit sechs Fingern würde sie nie mehr jemandem den ausgestreckten Mittelfinger zeigen können, und Iris wundert sich, weshalb dieser Gedanke sie betrübt. Dass sie nie mehr würde Handschuhe kaufen können, ist ihr hingegen egal; sie würde sich einfach selbst welche stricken.
Iris erinnert sich daran, bei Freud gelesen zu haben, dass nichts in den Träumen zufällig sei, vor allem nicht Zahlen, und sie fragt sich, was die sechs Finger zu bedeuten haben. Man kann sechs wie Sex aussprechen, und dass ihre Gedanken von Freud direkt zu Sex wandern, erscheint ihr wenig überraschend. Iris stellt sich vor, wie sie sich selbst befriedigt und dabei an Henrik denkt, den großen Schweden aus dem Nachbarhaus. Sie wundert sich, ob sie an Henrik denkt, weil sie ihn einfach schön und anziehend findet, oder vor allem deswegen, weil er so komplett anders aussieht als Daniel, ihr Ex-Mann. Iris stellt sich vor, den Penis von Daniel mit einer Gartenschere abzutrennen. Sie ist seltsam enttäuscht, dass sie keine Ahnung hat, ob die Menge an Blut in ihrer Vorstellung eher zu groß oder zu klein ist. Es ist ein verdammtes Klischee, dass Daniel sie mit seiner Sekretärin betrogen hat, denkt sie. Iris hatte stets Witze darüber gemacht, war sich sicher, dass Daniel so etwas nicht tun würde, er war doch anders als die anderen. Offensichtlich war er auch anders als derjenige, den sie in ihm sah. Natürlich würde sie seinen Penis nicht abtrennen können. Aber der Gedanke daran ist tröstlich.
Während Iris im Licht der Morgensonne auf ihrem Bett liegt und sich daran erinnert, dass sie davon geträumt hat, wach im Bett zu liegen und ihre Hand über ihren Körper gleiten zu lassen, lässt sie ihre Hand über ihren Körper gleiten und ihre Gedanken zum schönen Henrik aus dem Nachbarhaus wandern. Sie schließt ihre Augen und räuspert sich leise. In ihrem Kopf vergräbt Henrik seinen Kopf zwischen ihren Beinen, umgreift mit seinen Händen ihre Oberschenkel. Iris betrachtet die Bemühungen von Henrik mit einer ungewohnten Ergriffenheit und schenkt ihm ein Lächeln, das er nicht einmal in Gedanken sehen kann, als sie plötzlich feststellt, dass ihre Haut erneut von unzähligen Muttermalen befleckt ist. Sie zuckt zusammen und reißt die Augen auf. Henrik ist verschwunden, natürlich, und nach einem prüfenden Blick weiß sie, dass auch die Muttermale nicht mehr da sind.
Sie denkt an ihre Mutter und daran, dass diese fröhlicher wurde, nachdem der Vater gestorben war. Als Iris ihr erzählte, dass sie Daniel verlassen hatte, lächelte die Mutter und nickte, dann umarmten sie sich. Ohne ihre Männer waren sich die beiden Frauen näher als zuvor, und Iris fragt sich, was Freud wohl darüber geschrieben hätte.
Nachdem sie noch einige Minuten lang auf dem Bett gelegen hat, steht Iris auf, blickt aus dem Fenster und in den Garten. Sie beschließt, den Himbeerstrauch zu stutzen, womöglich auch die beiden großen Büsche, die an der Grenze zum Nachbargrundstück stehen. Womöglich arbeitet Henrik ja auch im Garten.
Als sie die Gartenhandschuhe anzieht, ist sie froh, dass sie fünf und nicht sechs Finger hat. Gartenhandschuhe würde sie nicht stricken können. Während sie mit ruhiger Hand die Gartenschere an die Himbeerzweige führt und einen nach dem anderen abschneidet, denkt sie daran, dass sie kurz zuvor noch in ihrem Schlafzimmer stand und auf die Stelle starrte, an welcher sie nun steht. Sie lässt die Gartenschere sinken und schaut nach oben zum Schlafzimmerfenster. Sie bildet sich ein, dass da ein Moment lang ein Schatten zu sehen war. Sie weiß, dass es eine Täuschung gewesen sein dürfte, aber es ist ihr egal. Dann lässt sie ihren Blick zum Nachbarhaus schwenken. Von Henrik ist nichts zu sehen, aber es ist ja noch früh, der Tag hat eigentlich gerade erst begonnen.

Fantasievoll komponiert…
Und …
Fantastisch geschrieben!
Liebe Grüße vom Finbar
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Oh, das freut mich sehr, lieber Finbar; vielen Dank! Und ganz herzlichen Grüsse zurück…
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