Ein Italiener, ein Franzose und ein Amerikaner kommen in eine Bar. Sie sehen sich kurz um, dann verlassen sie die Bar wieder, ohne etwas zu trinken.
Das ist nicht lustig, das ist kein Witz, Tina kann nicht darüber lachen, denn ihr gehört die Bar, sie ist ihre Leidenschaft, ihr Lebensinhalt, doch wenn die Leute sich nur umschauen und nichts trinken, muss sie die Bar schliessen, und dann muss sie wohl aufs Arbeitsamt. Dort, auf dem Arbeitsamt, arbeitet Evelyn, und Tina mag Evelyn nicht, denn Evelyn hat ihr vor vielen Jahren einst den Freund ausgespannt, wie man so sagt, obwohl Tina nicht weiss, warum man dies so sagt, denn Tina hatte Theo, ihren Freund, gar nicht eingespannt gehabt, sie waren einfach zusammen, waren ein Paar, zumindest bis Evelyn kam. Die Sache mit Theo wäre sowieso nichts geworden, jedenfalls nicht langfristig. Theo war ein Trottel, ein Trampel mit defizitärer Intelligenz, aber durchaus hübsch. Er war Grieche und sah so aus, wie Tina sich Griechen stets vorgestellt hatte. Wahrscheinlich passten Theo und Evelyn tatsächlich besser zusammen als Theo und Tina, denn Evelyn war ebenfalls ein Trottel und hätte ganz allein die Schaffung der weiblichen Form des Begriffs Trottel gerechtfertigt. Trotzdem war es unfein, einer anderen Frau den Freund auszuspannen.
Tina wischt den Tresen sauber, als die Tür aufgeht. Ein Schwarzer, ein Weisser und ein Asiate kommen in die Bar. Sie treten zu ihr hin und bestellen Weisswein. Sie sind elegant gekleidet, und einer der drei Männer duftet ganz wunderbar, sehr frisch, aber dennoch männlich. Tina hätte gerne gefragt, wer von den drei Herren das einnehmende Duftwasser trägt, doch sie wagt es nicht. Sie wünscht sich, dass es der Schwarze ist, denn sie wollte schon immer mal mit einem Schwarzen schlafen und weiss gar nicht, ob das nun rassistisch ist oder nicht. Sie bringt den Männern den Weisswein und tritt wieder diskret in den Hintergrund. Sie versucht, möglichst unauffällig zuzuhören, worüber die drei Männer sich unterhalten. Schnell wird ihr klar, dass es ein erschreckend langweiliges Gespräch ist, die drei Männer scheinen im Finanzbereich tätig zu sein, und eigentlich hört Tina kaum mehr hin, doch als einer der drei Männer das Wort Monopoly sagt, zuckt sie zusammen.
Sie sah ihren Vater äusserst selten, er arbeitete oft oder war aus anderen Gründen nicht zu Hause. Manchmal war er wochenlang abwesend, und wenn Tina die Mutter fragte, wo er sei, blieb diese einsilbig. Häufig bewegte die Mutter dabei ihre Pupillen kurz und heftig, blickte nach oben, sodass Tina bisweilen den Eindruck hatte, der Vater habe sich auf dem Dachboden versteckt. Natürlich war er nicht dort oben, Tina hatte mehrere Male nachgeschaut. Irgendwann kam der Vater dann wieder nach Hause, war aber selbst dann gar nicht richtig da. Hin und wieder jedoch spielte er mit Tina und ihrem Bruder eine Partie Monopoly, und in diesen wenigen Stunden waren sie sich ganz nah, ihr Vater verwandelte sich in diesen Menschen aus Fleisch und Blut und Muskeln und Stimme, etwas, das er sonst nie war. Die beste aller Monopoly-Partien spielten sie zweifellos in Griechenland, während eines Sommerurlaubs, einer der wenigen Sommerurlaube, bei denen die ganze Familie zugegen war. Sie sassen vor einem kleinen Ferienhaus an einem kleinen Holztisch, die Luft war warm und still, der Vater trank Wein und rauchte seine Zigaretten, Tina und ihr Bruder trugen kurze Hosen und lachten hell und klar, und während das Licht allmählich schwand, spielten sie Monopoly. Irgendwann konnten sie kaum mehr etwas erkennen. Schliesslich sagte der Vater, dass es zu dunkel sei und sie ja ein anderes Mal weiterspielen könnten.
Nachdem der Schwarze, der Weisse und der Asiate ihren Weisswein bezahlt haben, verlassen sie die Bar, und Tina bleibt allein zurück. Sie geht mit dem Putzlappen von Tisch zu Tisch, obwohl keine der Tischplatten schmutzig ist. Sie hat Musik von Leonard Cohen aufgelegt, Songs of Love and Hate, weil Leonard Cohen der einzige Musiker ist, von dem sie sicher ist, dass ihr Vater ihn mochte. Sie zündet sich eine Zigarette an, obwohl sie in der Bar eigentlich nicht rauchen dürfte, und denkt an den Moment, an dem ihre Mutter anrief, um ihr mitzuteilen, dass ihr Vater nicht mehr lebte. Tina fragt sich, ob die Bar ihm gefallen hätte.
Als die Türe sich öffnet, erschrickt Tina und zuckt zusammen, drückt instinktiv die Zigarette in einem kleinen Teller aus. Der Italiener, der Franzose und der Amerikaner kommen ein weiteres Mal in die Bar. Erneut sehen sich kurz um, dann zeigt der Italiener auf ein Regal. Sie nicken sich zu und setzen sich hin. Nachdem sie alle ein Glas Rotwein bestellt haben, steht der Italiener auf, geht zum Regal und zieht ein Monopoly-Spiel hervor, geht zurück zum Tisch und setzt sich wieder hin. Als Tina ihnen die Getränke bringt, verharrt sie ein wenig länger als nötig und starrt auf das Monopoly-Brett, auf die Spielfiguren, das bunte Spielgeld und die Kartenstapel. Zunächst bemerkt sie gar nicht, dass der Franzose mit ihr spricht, und erst, als der Italiener sie leicht am Arm berührt, findet sie aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart. Ob sie mitspielen wolle, wiederholt der Franzose seine Frage in einem charmant klingenden Deutsch. Sie verneint zunächst, reflexartig, doch dann lässt sie sich überreden, und jetzt sitzt sie da, am Tisch, spielt Monopoly mit einem Italiener, einem Franzosen und einem Amerikaner. Das ist kein Witz, aber es ist lustig. Während die tiefe Stimme von Leonard Cohen den Raum ausfüllt und sie Häuser und Hotels auf den blauen Feldern kauft, denkt Tina längst nicht mehr an Evelyn und an das Arbeitsamt. Irgendwann hört die Musik auf, aber das Spiel geht weiter. Irgendwann sind die Gläser leer, und Tina gibt eine Runde aus. Irgendwann muss Tina ins Gefängnis, doch das ist egal; sie hat noch eine Karte, mit der sie freikommt.

Eine gaanz wundervolle Geschichte von Tina, der eine Bar gehört und an deren Gedanken wir Leser teilhaben können.
Lieber Gruß von Bruni
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Vielen herzlichen Dank dir, liebe Bruni, freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt!
Liebe Grüsse zurück!
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Super Kurzgeschichte
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Vielen lieben Dank dir!
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