Dieser Text ist die dritte von drei Episoden, die im Rahmen der dritten Ambulanten Lesung in Speicher/Schweiz zur Aufführung kamen. Gelesen wurde der Text in einer alten Druckwerkstatt. Mehr über das Konzept und die Hintergründe auf ambulantelesung.com.
Es gibt ein Lied von der Band Tocotronic. Es heißt Digital ist besser. Ich sage nicht, dass Tocotronic lügen. Aber ich zweifle die Aussage an, vehement und aus tiefstem Herzen. Digital ist nicht besser. Wenn Digital der Fortschritt sein soll, die Zukunft, das Moderne, nein, dann ist Digital nicht besser. Digital ist höchstens der Versuch, es besser zu machen. Ein Versuch, der allzu oft misslingt.
Mir scheint, als fehle der modernen Zeit das Bedürfnis oder die Fähigkeit, etwas zu erschaffen, das dem Fahrtwind der Zeit standhält. Dass technische Gerätschaften heutzutage häufig nur so lange funktionieren, wie die Garantielaufzeit dauert, ist nur eines der Symptome dieser Denkhaltung. Wer ein Mobiltelefon besitzt, das älter als zwei Jahre ist, wird im besten Fall schief angesehen. Beständigkeit ist offenbar ein Wert, dem mittlerweile keine Beständigkeit mehr innewohnt.
Das war nicht immer so. Hier oben im Steineggwald haben sie eine Jahreszahl in den Stein graviert: 1695. Das Jahr, in welchem der letzte Wolf im Appenzellerland erlegt wurde. Eingehauen wurde die Inschrift im Jahr 1882, anlässlich der Waldvermessung. Und heute steht die Zahl noch immer da. Wäre es eine digitale Zahl, man hätte sie längst gelöscht, hätte nicht einmal mehr eine Sicherungskopie angefertigt. Doch die Zahl ist nicht digital. Sie ist real, sie ist greifbar, seit Jahrhunderten. Sie ist – tatsächlich – in Stein gemeißelt.
Auch im Steindruck, der sogenannten Lithografie, wird mit Stein gearbeitet, um die Zeit festzuhalten. Man zeichnet direkt auf den Stein und macht ihn zum Druckträger. Mit diesem Stein lässt sich dann in der Handpresse oder in der Steindruck-Schnellpresse eine Lithografie anfertigen. Es braucht Zeit, dieses Verfahren, es braucht Geduld, und es braucht Herz, Leidenschaft, ja, es braucht Liebe.
Es gibt immer weniger Menschen, die der Lithografie oder den anderen traditionellen Drucktechniken ihr Herz, ihre Leidenschaft, ihre Liebe schenken. Umso schöner ist es, diesen wenigen Menschen zu begegnen. Einmal war hier in der Druckwerkstatt eine Künstlerin zu Besuch, eine ziemlich junge Frau. Ihre Augen waren irgendwie unterschiedlich, ihre Haare widersetzten sich der Schwerkraft, aber sie war mir sehr sympathisch. In ihren merkwürdigen Augen blitzte jene Leidenschaft auf, die im tiefsten Innern wurzelt. Sie ging zunächst mit strahlender Begeisterung in der Druckwerkstatt umher, betrachtete die Druckpressen und die Artefakte, strich mit ihren schlanken Fingern über die Gerätschaften. Irgendwann begann sie schließlich zu arbeiten und fertigte einen Steindruck an. Auf diesem Steindruck war ein Läufer abgebildet, der mit gebücktem Rücken durch den Wald lief. Ich weiß nicht genau, woran es lag, dass genau dieses Bild mich erschaudern ließ, im besten Sinn. Vielleicht war es die Klarheit der Linien, mit welcher die Künstlerin diese Szene beschrieb. Vielleicht war es die gebückte Haltung des Läufers, die von der Bürde der Jahre und Jahrzehnte zu erzählen schien. Vielleicht war es auch die Künstlerin selbst, diese junge Frau mit der Leidenschaft in den Augen. Was es auch immer war, es machte mich sprachlos. Und offensichtlich erkannte die junge Künstlerin meine Begeisterung. Denn sie schenkte mir das Bild. Sie kenne das Leuchten in meinen Augen, meinte sie und lächelte.
Nur zu gerne würde ich es zeigen, würde es in Szene setzen, als greifbares Beispiel der atemberaubenden Kraft, die in den alten Drucktechniken liegt. Doch das Bild, es ist nicht mehr in meinem Besitz. Eines Tages kam eine Frau aus Italien zu Besuch, eine äußerst elegante Dame mit roten Stiefeln mit beeindruckend hohen Absätzen. Sie sah sich interessiert in der Werkstatt um, nickte immer wieder, als wüsste sie um den Wert der konservierten Zeit. Schließlich erblickte sie das Bild des Läufers und verharrte, ließ den Unterkiefer ein wenig nach unten klappen. Ich weiß nicht, wie lange sie in der Werkstatt stand und auf das Bild starrte. Irgendwann zuckte sie zusammen, dann kam sie auf mich zu und sagte, dass sie mir das Bild und die Steinplatte abkaufen möchte, koste es, was es wolle. Ich habe ihr erklärt, dass ich mit Probedrucken und Steinplatten keinen Handel treibe. Im ersten Moment zeigte sich in ihrem Gesicht eine deutlich sichtbare Enttäuschung, doch dann nickte sie und meinte, dass sie mich verstehe. Sie lächelte und blickte sich noch einmal in der Werkstatt um. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Es war eindeutig, dass sie die Luft in diesem Raum in sich aufnahm, ganz bewusst, gerade so, als wollte sie die Zeit, die in dieser Werkstatt eine Heimat gefunden hatte, einatmen. Daraufhin habe ich ihr das Bild geschenkt. Und es bis heute nicht bereut.
In einigen Jahrzehnten wird es auch hier in der Steinegg wohl keine Druckwerkstatt mehr geben, da werden keine Radios mehr in den Fenstern stehen. Aber dort oben im Steineggwald, da wird noch die Zahl 1695 in Stein gemeißelt sein, das Jahr, in dem zum letzten Mal ein Wolf im Appenzellerland erlegt wurde. Und irgendwo, vielleicht in Italien oder an einem anderen Ort, wird jemand auf eine Lithografie blicken, auf der ein gebückter Läufer abgebildet ist. Und vielleicht, hoffentlich, wird dieser Jemand dabei einen Moment lang verharren, wird staunen, wird begeistert sein. Und wird etwas verspüren, irgendwo im Innern.

Die erste Episode gibt’s hier.
Die zweite Episode gibt’s hier.
Wie gut verstehe ich Deine Liebe zum alten, zum Steindruck, zu den Dingen, die nicht vergehen, die noch bleiben dürfen, wenn wir selbst schon zu Staub geworden sind.
Ich besitze einen nun schon alten Steindruck eines Liebespaares, die Signatur ist versteckt, es gibt mehrere davon, aber ich liebe dieses Bild mit der versteckten Signatur
Liebe Grüße von Bruni
LikeGefällt 1 Person
Manche Dinge erhalten ihren Zauber vielleicht erst durch die Zeit, die an ihnen vorübergegangen ist und welcher sie standgehalten haben. Ausserdem erzählen all die neuen Dinge der Welt nur selten eine Geschichte. Die alten Dinge aber umso mehr. Und manchmal, wie bei deinem Steindruck, ist es vielleicht auch die Geschichte, die nicht erzählt wird, die den Zauber ausmacht…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, und herzliche Grüsse zurück
LikeGefällt 2 Personen
ja, mir sind die Geschichten wichtig, die mir die alten Dinge erzählen und sie erzählen so viel
LikeGefällt 1 Person
wunderschön und wahr😁…
ja das Digitale hat seinen Reiz und bietet neue Möglichkeiten der Gestaltung, aber es geht NICHTS über altes Handwerk…. ich liebe es mir die Finger mit Farbe schmutzig zu machen, mit Tinte und Feder zu schreiben und immer wieder mit verschiedenartigen Drucktechniken zu experimentieren….freue mich an einem großen alten Stempelalphabet das ich im Keller einer stillgelegten Fabrik gefunden habe😀….
Liebe Grüße Tina
LikeGefällt 1 Person
Das klingt wunderschön, das alte Stempelalphabet aus dem Keller der stillgelegten Fabrik…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück
LikeGefällt 1 Person
Zauberschön, dein Text, lieber Disputnik…
Den Song von Tocotronic kenne ich auch schon länger… nicht alles neuere ist besser …zum Beispiel sind Vinyls immer noch sehr gut hörbar. Sie müssen den Vergleich mit digitaler Musik nicht scheuen!
Liebe Grüße vom Finbar
LikeGefällt 3 Personen
Vielen herzlichen Dank, lieber Finbar! Oh ja, «neu» ist in sehr vielen Fällen nicht gleichbedeutend wie «besser». Ob in Häusern, Autos oder eben Tonträgern; in älteren Dingen wohnt bisweilen etwas, das sich auch mit modernster Technologie nicht reproduzieren oder inszenieren lässt.
Herzliche Grüsse zurück…
LikeGefällt 1 Person
🌟🌟🌟
LikeLike