Dieser Text ist die zweite von drei Episoden, die im Rahmen der dritten Ambulanten Lesung in Speicher/Schweiz zur Aufführung kamen. Gelesen wurde der Text beim Haus eines passionierten Radiosammlers. Mehr über das Konzept und die Hintergründe auf ambulantelesung.com.
Wenn mich die Leute fragen, was ich denn so anfange mit der Zeit, die in meinen Tagen rumliegt, dann gebe ich immer die gleiche Antwort. Ich sammle Radios. Manche nicken dann unsicher, andere zucken mit den Schultern. Einige lächeln verträumt, das sind wohl jene, die mich verstehen. Ich sammle Radios. Es geht mir nicht um das Sammeln an sich, ich könnte keine alten Spielzeugautos sammeln, oder gar Briefmarken oder dergleichen. Es geht mir um die Radiogeräte, um das Radio an sich. Dennoch verstehe ich sie, die Leute, die Spielzeugautos sammeln, oder Briefmarken.
Ich denke, alles ist edel, wenn es dem Herzen entspringt. Wenn jemand von Herzen gerne kocht, ist das wunderbar, selbst dann, wenn das Gekochte nach faulem Gemüse schmeckt und sich kaum hinunterschlucken lässt. Es wohnt etwas ungemein Tröstliches in den Herzensangelegenheiten und Leidenschaften der Leute, etwas zutiefst Menschliches. Ich glaube, für das Menschsein braucht es nicht zuletzt auch Dinge, denen man sein Herz schenkt. Und für mich ist das Radio dieses Ding. Auch wenn es mehr ist als ein Ding, sehr viel mehr.
Das Radio hat die Menschen geprägt. Freilich prägt auch das Fernsehen die Menschen, oder das Internet, doch sie gebärden sich dabei unglaublich laut und lärmig, sie schlagen wild um sich und nehmen auf niemanden Rücksicht. Das Radio hingegen, es war stets ungleich eleganter. Wer schon einmal das 2. Klavierkonzert in B-Dur von Brahms über das Radio gehört hat, der weiß, dass in den Tönen bisweilen eine ganz eigene Lebenskraft steckt, eine beinahe atemberaubende akustische Qualität. Natürlich darf es nicht irgendein beliebiges Radiogerät sein. Die wahre Eleganz, sie zeigt sich erst, wenn nicht nur der Musik und den Worten eine gewisse Echtheit innewohnt, sondern auch dem Gerät, welchem die Musik und die Worte entweichen.
Radio hören kann man auch mit dem billigen Mist, den man heute für ein wenig Klimpergeld im Internet bestellen kann. Dann kommt ein Paket aus China, man packt es aus, setzt Batterien ein oder hängt es ans Stromnetz, und schon dringt eine Stimme aus den Lautsprechern, die davon erzählt, dass man in Heiden einen Wolf gesehen habe oder dass in einer kleinen Druckwerkstatt in der Region alte Steindrucke ausgestellt werden. Das Paket aus China, es sorgt dafür, dass man mehr über die eigene Heimat erfährt. Das ist beeindruckend, zweifellos. Doch nach einigen Wochen oder Monaten ist nichts mehr übrig von diesem Beeindruckenden, da ist oftmals nur noch ein Haufen Plastik, der entweder nicht mehr funktioniert oder nicht mehr benutzt wird. Solche Radiogeräte sind mir egal. Andere hingegen, echte Radios mit Charakter, sie berühren mich. Das sind die Radios, denen meine Leidenschaft gehört. Das sind die Radios, die ich sammle.
Die Radios, sie berühren nicht nur mich. Sie lösen auch in anderen Menschen etwas aus, was wiederum in mir etwas auslöst. Es gibt tausend Geschichten über solche Menschen, doch eine ist mir besonders nah. Eines Tages – es war tiefer Winter, der Schnee lag in dicken Schichten über der Steinegg – fuhr ein Auto vor meinem Haus vor, eine große und elegante Limousine mit italienischem Kennzeichen. Der Motor wurde ausgeschaltet, dann öffnete sich die Beifahrertür. Das erste, was ich sah, waren die Schuhe. Blutrote Stiefel mit hohen Absätzen. Sie wirkten völlig fremd im weißen Schnee, beinahe lächerlich, doch gleichzeitig strahlten sie auch eine merkwürdige Zuversicht aus, einen übermütigen Stolz. Die Frau, die ausstieg, schien sich am Schnee nicht zu stören und auch nicht daran, dass ihre hohen roten Schuhe nass wurden. Sie kam auf mich zu und begann, in erstaunlich gutem Deutsch zu reden. Sie stamme aus Mailand, sagte sie, und bei einem früheren Besuch in Speicher habe sie meine Röhrenradio-Sammlung gesehen. Sie sei von dieser Leidenschaft so begeistert gewesen, dass sie sich geschworen hatte, beim nächsten Besuch ihr eigenes Radiogerät vorbeizubringen. Sie nickte ihrem schweigsamen Begleiter – es war wohl ihr Ehemann – kurz zu, woraufhin dieser zum Kofferraum des Wagens ging und mit einem Radiogerät zurückkam. Es war ein wunderschönes Radio, ein Marconi, beinahe makellos. Ich war sprachlos. Nicht nur wegen dem Radio. Sondern wegen der Reise, welche die Frau unternommen hatte, um mir das Radio zu bringen. Und wegen dem Bild, das sie in die winterliche Landschaft der Steinegg malte. Alles an diesem Bild schien aus der Zeit gefallen zu sein, schien sich gelöst zu haben von den Gesetzen der Monate und Jahre. Die Frau, das Radio, die Limousine, die roten Schuhe, sogar der Schnee und der Wald und die Häuser, alles fügte sich zu einem Gemälde zusammen, in welchem die Zeit konserviert blieb.
Es ist kein Zufall, dass dieses Gemälde die Steinegg zeigte, davon bin ich überzeugt. Der Steinegg wohnt diese gewisse Kraft inne, die anderen Gebieten fehlt. In diesem Wald steht ein Stein, in den man den Moment eingehauen hat, in welchem der letzte Wolf im Appenzellerland erlegt wurde. In meinem bescheidenen Heim bleibt die Geschichte des Radios ein Stück weit lebendig. Und nur einige Schritte von hier steht eine Druckwerkstatt, in welcher Drucktechniken gepflegt werden, die andernorts nicht mehr überleben konnten.

Hey. Das ist ein super Text. Hat mich gleich an meinen kürzlichen Blog erinnert … https://kreativeseite.com/2018/10/28/sangean-pocket-radio-mit-musik-durch-den-tag/
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Schön, das freut mich, vielen lieben Dank dir!
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ganz toll und wunderschön geschrieben
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Vielen lieben Dank dir!
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Lieber Ralf, du hast hier eine wunderschöne Geschichte verfasst, die mich sehr anrührt.
Ich verstehe sie so gut, die Sammelleidenschaft für ganz besondere Dinge, bei mir sind es andere als deine, aber für mich kostbar.
Und die konservierten Momente, in denen etwas geschah, was uns unvergesslich bleibt.
So werde ich an deine geschichte denken, in der nicht nur rote Schuhe und Schnee vorkamen…
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Das freut ich sehr, dass dich die Geschichte anrührt, und es freut mich, dass da Kostbares ist, das dich zum Sammeln anregt… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzlichste Grüsse…
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Ein riesiger Glücksfall ist es zudem noch, das feine zweite Klavierkonzert von Brahms in der unvergleichlichen Interpretation von Swjatoslaw Richter im Radio zu hören: Lebenshöhepunkt!
Liebe Grüße vom Finbar
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Das klingt noch umso schöner! Freut mich für dich, lieber Finbar…
Herzliche Grüsse zurück!
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Dankeschön 🌻
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