Dieser Text ist die erste von drei Episoden, die im Rahmen der dritten Ambulanten Lesung in Speicher/Schweiz zur Aufführung kamen. Gelesen wurde der Text am Waldrand. Mehr über das Konzept und die Hintergründe auf ambulantelesung.com.
In diesem Wald haben sie zum letzten Mal einen Wolf im Appenzellerland erlegt. Einen Wolf! Dieses wilde Tier, dieser stechende Blick, die heraushängende Zunge! Er hat die sieben Geißlein gefressen, der Wolf. Er hat Rotkäppchen und die Großmutter gefressen. Und irgendwann, im Jahr 1695, wurde er hier in diesem Wald getötet. Zunächst haben sie ihm eine Falle gebaut, in die er auch tatsächlich fiel, und dann haben sie ihn erschlagen, mit Knüppeln und Steinen. Und später, sehr viel später, haben sie ihm ein Denkmal gebaut, dem toten Wolf, hier im Wald, haben die Jahreszahl seines Todes in einen Felsen gehauen und den Ort Wolfsgrube genannt. Jetzt hat der Wolf seinen Grabstein hier im Wald.
Auch ein Teil von mir liegt wohl hier vergraben, im Dickicht unter den Tannennadeln und den Ameisen. Zwar hat mich niemand erschlagen oder erschossen. Doch ich wurde erwischt. Die Zeit, sie ist eine unerbittliche Jägerin. Wir können ihr wohl kurz ausweichen, doch wir können ihr nicht entfliehen. Ich habe den Schuss nicht gehört, weil es keinen gab. Aber das Rauschen und Pfeifen im Ohr dauert nun schon einige Jahre lang an. Und die Zeit, sie bleibt mir auf den Fersen.
In diesem Wald gibt es einen Vitaparcours, einen dieser Trimm-dich-Pfade mit seinen 15 Posten. Man muss über Baumstämme hüpfen, sich an Reckstangen hängen, Liegestütze machen. So bleibt man beweglich, so bleibt man fit, so bleibt man gesund. Ich bin den Vitaparcours früher mindestens einmal pro Woche gelaufen, manchmal sogar gleich zwei Mal hintereinander. Das war meine Flucht in die Freiheit, das waren meine kleinen Inseln, die weit weg vom starren Alltag auf dem weiten Meer trieben und mich stets spüren ließen, dass auch ich ein Teil der Natur war. Und jetzt? Jetzt bin ich nicht mehr beweglich genug, um den Vitaparcours zu bewältigen. Ich bin nicht mehr fit genug, nicht mehr gesund genug. Die Hüfte ist schuld, rede ich mir ein, doch wenn es nicht die Hüfte wäre, dann wäre es ein anderer Teil meines Körpers. Ich bin nicht krank, aber ich bin alt. Und manchmal denke ich, dass das Eine und das Andere sich viel zu sehr gleichen, um überhaupt einen Unterschied zu machen.
Hin und wieder gehe ich spazieren im Wald, und dann begegne ich ihnen, diesen jungen und sportlichen Menschen, die den Vitaparcours absolvieren oder einfach durch den Wald rennen. Sie tragen teure Laufschuhe und enge Hosen und T-Shirts in grellen Farben. Manchmal nicken sie mir zu, manchmal schauen sie grimmig, manchmal murmeln sie etwas Unverständliches, manchmal lächeln sie; doch jedes Mal würde ich ihnen nur zu gern die Faust ins Gesicht schlagen oder ihnen von hinten in die Beine treten, damit sie hinfallen. Ich kann sie nicht ausstehen, diese merkwürdigen Gestalten, die den blanken Hohn in ihren Gesichtern tragen und mir mit jeder ihrer geschmeidigen Bewegungen klar machen, dass ich erwischt wurde, von der Zeit, dieser ruchlosen Jägerin.
Natürlich weiß ich, dass sie keine Schuld tragen, diese dynamischen und beweglichen Sportskanonen. Sie sind nichts anderes als das, was ich früher war. Trotzdem nehme ich es ihnen übel. Ich beneide sie um ihre Kraft, um ihre Stärke, um diese ausgeprägte Körperlichkeit, die zugleich aufgesetzt und zutiefst natürlich wirkt. Vor allem aber beneide ich sie um die Zeit. Um jene Zeit, die sie noch zur Verfügung haben. Eine Zeit, die mir entglitten ist und immer mehr entgleitet.
Ich komme mir vor wie ein Dinosaurier, der bereits ahnt, dass er einer aussterbenden Art angehört. Ich bin ein Museumsstück, und die jungen Leute, sie kommen und betrachten mich und staunen, sind fasziniert, was die Zeit mit uns Menschen macht, und sie verdrängen die Tatsache, dass auch sie nicht entfliehen können. Mir scheint, als würde ich langsam, aber stetig zu einer Erinnerung werden, zu einem Eintrag im Geschichtsbuch, wie der Walkman oder die Schallplatte, wie das Briefeschreiben oder das Radio. Ich weiß noch, wie ich früher in meinem Zimmer saß und Radio hörte. Elvis Presley. Otis Redding. Dann natürlich Abba, aber Abba mochte ich nicht. Ich bin mir nicht mehr sicher, welche Möbel damals in meinem Zimmer standen, aber ich kann mich noch genau daran erinnern, wie mein Radiogerät aussah. Es war groß und klobig und braun. Ein ganz ähnliches Gerät steht nicht weit von hier, im Fenster eines Hauses. Zumindest stand es früher stets dort. Ich würde gerne nachsehen, ob es noch da ist.

Hier gibt’s die zweite Episode.
Hier gibt’s die dritte Episode.
Ein Text, wie ihn mancher ältere Mensch schreiben könnte, könnte er es – so wie Du
Die Zeit geht an uns vorüber und läßt uns ihre Falten hier, Gebrechen und unbeweglichere Körper, es sei denn, man ist noch voller Power und läßt sich von der vorüberrasenden Zeit nicht allzusehr schecken 🙂
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schrecken sollte es natürlich heißen!!!
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Geht sie an uns vorüber oder eilt sie uns voraus? Ist es schlimm, wenn wir zurückbleiben? Ist es schlimm, wenn wir ihr vorauseilen? Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni!
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