Rosa steht gerade unter der Dusche, als das Telefon klingelt. Im ersten Moment will sie das Wasser abdrehen, sich das Frotteetuch greifen und ins Wohnzimmer eilen, doch dann bleibt sie unter der Dusche stehen, lässt das warme Wasser auf ihre Haut prasseln und wartet, bis das Telefon verstummt. In solchen Momenten kommt ihr die Leidenschaft für alte und antike Objekte in die Quere. Moderne Geräte zeigen die Nummer des Anrufenden an. Ihr Telefon verfügt über keinerlei Anzeige, aber über eine Wählscheibe und über jenen Charakter, der den aktuellen Geräten fehlt. Es ist schwarz und schwer. Sie liebt ihr Telefon. Dennoch hätte sie gerne gewusst, wer angerufen hat.
Nach der Dusche holt sie eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, geht ins Wohnzimmer und setzt sich auf die Couch. Draußen zerrt der Wind an den Blättern der großen Linde, es hat zu regnen begonnen. Rosa zündet sich eine Zigarette an und starrt auf das Telefon. Früher wäre die Wahrscheinlichkeit groß gewesen, dass es ihre Mutter war, die anrief. Doch dieses Früher, es ist vorbei, ihre Mutter ist tot. Rosa mag den Gedanken, dass ihre Mutter nun mit ihrem Vater vereint ist, obwohl sie nicht daran glaubt, dass es so sein könnte.
Nachdem sie eine weitere Zigarette geraucht hat, startet sie einen halbherzigen Versuch, sich selbst zu befriedigen. Sie lässt die Hand über ihren Oberkörper gleiten, schiebt sie dann unter den Stoff ihres Baumwollslips, doch nach einigen Sekunden lässt sie die Finger ruhen. Sie liegt einfach da, mit der Hand in der Unterhose, und wartet, bis das Telefon wieder klingelt oder irgendetwas geschieht. Schließlich richtet sie sich auf, trinkt die Flasche leer und holt sich ein neues Bier.
Sie hatte mit dem Fechten begonnen, doch nach einigen Wochen bereits wieder aufgehört. Sie wusste zwar, dass sie niemanden verletzen würde, hatte aber trotzdem ein ungutes Gefühl, gegen einen anderen Menschen zu kämpfen. Die Ausrüstung hat sie behalten, und manchmal zieht sie sich Plastron und Fechtanzug an und stellt sich mit dem Säbel in der Hand vor den Spiegel. Sie mag, wie sich ihr Körper unter dem dicken Stoff der Fechtbekleidung und dem Brustpanzer anfühlt. Und sie mag es, wenn ihr Gesicht unter der Fechtmaske verschwindet.
Es war nicht nur das Fechten. Rosa hat unzählige Dinge angefangen und dann einschlafen oder ausfransen lassen. Sie hat von einem Dutzend Romanmanuskripten die ersten zwei oder drei Seiten geschrieben. Sie hat eine Staffelei gekauft, aber nie ein Bild zu Ende gemalt. Sie besuchte Vereine und Kurse, versuchte sich in Capoeira und Ukulelespielen, doch stets überdauerten die Besuche und Versuche höchstens einige Wochen. Manchmal stört sie sich an diesem Ausfransen, doch häufig ist es ihr seltsam egal.
Sie steht auf und legt eine Schallplatte auf. Alice von Tom Waits. Sie wünscht sich, sie würde Alice heissen. Oder Martha. Oder Rosie. Oder Mathilda. Sie würde gerne in einem Song von Tom Waits leben.
Vor dem Fenster schwindet allmählich das Licht, der Wind hat nachgelassen. Rosa liegt auf dem Sofa und wartet noch immer, dass das Telefon klingelt. Während sie still im Jetzt liegt, lässt sie ihre Gedanken durch die Zeit wandern, hin zu vollkommen banalen Momenten. Ein Einkauf bei einer alten Kioskfrau, ein Zoobesuch mit einem ehemaligen Freund, ein Tag am Meer, eine Knieverletzung, als sie noch ein Kind war. Sie wundert sich, warum ihr genau diese Dinge in den Sinn kommen, aber andere, eigentlich doch viel bedeutendere Ereignisse ausgeklammert bleiben.
Tom Waits ist längst wieder verstummt, als Rosa von einem lauten Geräusch aus ihren Gedanken gerissen wird. Es dauert einige Sekunden, bis sie begreift, woher das Geräusch stammt. Sie starrt auf das Telefon. Es ist schwarz und schwer. Sie liebt ihr Telefon. Sie richtet sich auf, will bereits aufstehen, doch dann zögert sie und schaut weiterhin auf das Telefon, ohne sich zu bewegen. Das Klingeln wirkt beinahe lächerlich, es passt nicht zur Temperatur und zur Luft im Raum, es klingt unbeholfen und beinahe verletzend. Rosa wartet. Sie sitzt reglos auf ihre Couch und lauscht dem Klingeln. Schließlich verstummt es.

manchmal – Zeiten in denen nicht nur das Gesicht unter der Fechtmaske verschinden will..
sich nicht zeigen, verstecken, zurückweichen, auf nichts reagieren wollen, sich für gar nichts und gegen nichts entscheiden wollen…
manchmal – dieses für und wider, alles ist gleich, ohne Bedeutung, keine Schwere-keine Leichtigkeit..
manchmal – könnte man alles mögliche tun-oder einfach auch lassen….
und dann auf einmal-erscheint ein wärmendes Wort, ein Gedanke, eine Begegnung und: sie ist wieder da: die Spur, die einlädt, Fährte aufzunehmen. Kleine Klangmomente, die etwas Neues einläuten-eine Idee, ein Funken Begeisterung, immer wieder…Bedeutung findet wieder ihren Weg..
so manche Spur, die erst mal ins Leere läuft, kann Jahre später wieder aufgenommen werden und langsam zu Pfaden werden. Oder auch nicht…
danke für deine Texte, die zum weiterdenken einladen lieber Disputnik… viele Grüße Tina
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Und ich danke dir, liebe Tina, fürs Lesen und Weiterdenken und Mitteilen… Das freut mich sehr… Herzliche Grüsse zurück…
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Ich kann mit „Martha“ als zweitem Namen aufwarten, aber Rosa könnte ich schon deswegen nicht heißen, weil ich das Telefon nie klingeln lassen würde und zweitens nie so ein altes hätte, was mir nicht anzeigt, wer angerufen hat. Deswegen heiße ich ja auch Clara . 🙂 – Im Grunde genommen bräuchte ich gar keinen AB mehr, aber so eine Stimme darauf ist schöner als nur eine Nummer auf dem Display.
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Jaha, Stimmen sind immer schöner als Nummern… Vielleicht schreibt Tom Waits ja noch einen Song zum Namen Clara, und sonst gäbe es noch diesen hier…
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Clara Martha…
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