Das Licht ist anders, auch die Farben. Das ist schon lange so, eine kleine träge Ewigkeit. Wenn er blinzelt, bleiben die Lider manchmal aneinander kleben. Er reißt dann die Augen auf und macht ein langes Gesicht. Seine Hosen sind enger geworden, sie drücken ihn in der Mitte zusammen, doch er will keine neuen Hosen, jedenfalls nicht in einer anderen Größe als üblich. Auch die Hemden sind enger als früher, oben am Kragen. Die Krawatten, die er tragen muss, legen sich wie eine Schlinge um den Hals. An einem Morgen verlässt er das Haus, und während er zu seinem Wagen geht, kreuzt ein kleiner Käfer seinen Weg, rennt vor ihm über den Asphalt, und natürlich hätte er ausweichen können, aber er tut es nicht, und als er mit seiner Schuhsohle den kleinen Käferpanzer zerquetscht, verspürt er eine seltsame Genugtuung. Im Wagen ist er dann ganz allein, ganz für sich, wie jeden Tag. Die Zeit im Auto gleicht einer kleinen Rettungskapsel, einer Insel im haltlosen Raum. Manchmal hört er Musik, damit die Stille verschwindet. Manchmal schaltet er das Radio aus und hält die Fenster geschlossen, damit der Lärm draußen bleibt. Und manchmal schreit er, schreit ganz laut und schrill, und irgendwann hört er auf und fährt stumm weiter. Als seine Frau sich die Haare ganz kurz schneidet und schwarz färbt, bemerkt er es zunächst gar nicht, und als sie ihn darauf hinweist, zuckt er mit den Schultern und meint, dass ihm die langen Haare besser gefallen hätten. Eine Mücke landet auf seinem Arm, und er lässt sie sein Blut saugen, und später regt er sich auf, dass er einen Mückenstich hat. Er schaut die jungen Frauen auf der Straße an, mustert ihre Brüste und Beine, und dann gähnt er und kratzt sich an der Schläfe. An manchen Tagen riecht die ganze Welt nach Hühnerbrühe. Er beobachtet die Kinder, diese kleinen Menschen, und bisweilen reden sie mit ihm, doch er versteht ihre Sprache nicht richtig, er nickt dann jeweils und legt den kleinen Menschen kurz die Hand auf den Kopf. Er trifft zufällig einen alten Freund, und als der Freund vorschlägt, gemeinsam ein Bier zu trinken, winkt er ab und sagt, dass er gerade keine Zeit habe. Er hat schon seit Monaten oder Jahren keine Zeit mehr. Mit den Tabletten kann er besser schlafen; nicht länger, aber tiefer. Einmal stellt er sich vor, in so tiefer Tiefe zu schlafen, dass er nicht mehr hinausfindet. Dann lächelt er kurz und blinzelt, und wieder einmal bleiben die Lider aneinander kleben. Er reißt die Augen auf und macht ein langes Gesicht. Das Licht ist anders, auch die Farben. Das ist schon lange so.

Hallo Disputnik, ich bin jetzt ein wenig frech. Bei deinem Satz „… mustert ihre Brüste und Beine, und dann gähnt er und kratzt sich an der Schläfe. “ hätte ich als letztes Wort auch etwas mit S erwartet, aber eben nicht die Schläfe.
Ich geh schon und bin beim nächsten Mal nicht wieder frech … oder doch. Je nachdem.
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Vielleicht wäre es früher auch tatsächlich etwas anderes gewesen als die Schläfe, doch mittlerweile bleibt es bei ihm wohl nur noch beim Gähnen und eben bei der Schläfe….
(Und du darfst sehr gerne wieder mal frech sein.)
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und fürs Frechsein… Herzliche Grüsse…
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Er wurde älter und kälter.
Seine Anzüge engten ihn plötzlich ein, nichts blieb wie es war.
Er versteht das Heute nicht mehr, nicht sich selbst in diesem Heute, nicht die Kleinen, die weinen und auch nicht die, die lachen.
Es ist, als wäre ein Schalter in seinem Innern umgelegt, und er würde keine Farben mehr sehen, weil sie in den Jahren verblichen und vermutlich ist seine Frau für ihn auch nur noch ein farbloser Schatten, den er kaum noch sieht .
Er weiß nichts von diesem Schalter in seinem Inneren, sonst könnte er ihn vielleicht wieder auf Lebenwollen stellen … vielleicht
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Ja, vielleicht ist es ein Schalter, vielleicht ist es auch ein unsichtbares Gewicht, dass von allen Seiten drückt und drängt… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und fürs wundervolle Weiterdenken und Vertiefen!
Herzliche Grüsse!
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Tolle Geschichte in der viele verschiedene Themen stecken…. ich versuche mal an einer Stelle weiterzudenken:
Bisher konnte und wollte er sich keine Weite verschaffen, nicht einmal eine weitere Hose war denkbar. Enge, die ihn bedrängt, die ihn zu unbedachten und verletzenden Haltungen und Handlungen lenkt.
Aber heute beginnt die Stille in ihm eine andere Färbung anzunehmen: zunächst nur eine kleine Schattierung. Heller.
Heute dringt ein kleines Wörtchen durch das Rettungsinselautofenster bevor er es dicht verschließt. Es setzt sich vorsichtig an den Rand seines Seelenfensters und haucht zart in sein Innerstes. Er spürt ein leises Beben und wie etwas ganz tief in ihm zu leuchten beginnt.
Das Wörtchen fühlt sich zaghaft willkommen und bestärkt, noch ein Weilchen zu bleiben. Es beobachtet wie sich der Seeleninnenraum erhellt und eine Spur in Endlosschleife durch alle Räume zieht.
H O F F N U N G
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und fürs wunderbar poetische Weiterdenken! Es wäre ihm (und nicht nur ihm) zu wünschen, dass jenes Wörtchen allmählich zu ihm vordringt und ein wenig Licht und Wärme bringt…
Herzliche Grüsse!
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ja, das ist ihm und nicht nur ihm zu wünschen 😁…. dazu fällt mir ein:
vorsichtig hatte sie sich an den Seelenrand gesetzt-bereit wieder fluchtartig ihren Platz zu verlassen. Sie lässt sich schnell vertreiben-immer wieder. Aber sie kommt auch zurück-immer wieder…..manchmal ganz klein und zerknittert, aber wenn sie sich eingeladen fühlt, möchte sie auch gerne bleiben… sie träumt davon, funkenschlagend durchs Haus zu flitzen, in allen Räumen die Fenster zu öffnen, allem leblosen neue Farbe zu geben.
Aber sie freut sich auch schon, wenn sie ein kleines bischen von ihrem Lebensatem in die Seele hauchen darf… sie gibt aber nicht auf und träumt weiter….
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Vielen lieben Dank dir fürs wunderbare Weiterfabulieren…
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ach-und nochmal weiter:
In letzter Zeit war ihr Fluchtinstinkt stärker, als der Wunsch Licht und Wärme zu spenden. Sie hat Angst von der Dunkelheit verschluckt zu werden, weil diese oft so groß und dick daherkommt. Und owohl sie weiß, dass sie ihr letztendlich nichts anhaben kann, hat sie Angst ausgelöscht zu werden. Sie, die oft ganz klein und etwas zerknittert auftritt, sich aber unter günstigen Bedingungen groß auszubreiten weiß, ganze Räume auszufüllen versteht….
Heute konnte sie spüren, dass sie zwar klein aber stark war, denn durch ihre bloße Anwesenheit verzogen sich bereits die ersten grauen, wabernden Schwaden.
Ihre kleinen, diesmal längsgestreiften Wärmeteilchen begannen zögernd aber immer ausdauernder ihre wohltuende Wirkung.
ER und nicht nur ER- konnte besser durchatmen, er spürte wie eine Wärmespitze sanft seine Nase kitzelte.
ER und nicht nur ER begann zu lächeln.
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…und auch hier nochmals ein herzliches Dankeschön dir!
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Wie leicht was tothaun gehen kann, so ein Käfigpanzer, was ist das schon? Ob er weiß wie man mit Zehen Schatten malt? Ob er es kennt, das Gefühl von Käferkribbelbeinen über Haargrashautwiesen? Ich kann es mir nicht vorstellen. Nicht auszudenken, müsste eine so klobige Hand einen Minivogel beschützen. Wieder interessante Fragen, die sich in die Tiefe bohren, wo ich Tiefe vermisse in einem von sich selbst unbespiegelten Menschen. Als wollte ich einem Blinden eine vorspringende Fliehstirn erklären. Die Augen steh‘n zu eng zum Tasten. Besteht dieser Mann nur aus Üblichkeiten und Gewohnheiten? Er schließt die Augen und die Farben sind anders, sie sind enger, klammern sich in die Erde hinter den ruhelosen Lidern.
Dolle Geschichte, wow!!!…und liebe Grüße ✨
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…und einmal ein wunderbar furios weiterdenkender Kommentar, der ein Dutzend neue Bilder malt… Vielen lieben Dank dafür! Und überhaupt fürs Lesen…
Herzliche Grüsse zurück!
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