Die Scheinwerfer sind viel zu hell. Er ist ein Reh, er ist gefangen im Lichtkegel. Dann ist das Auto vorübergefahren, und er wird allmählich wieder zu einem Menschen, frei und ein wenig frierend. Er geht durch den kühlen Morgen, es ist eigentlich noch schwarze Nacht, die wenigen Straßenlaternen malen die Stadt gelb und weiß an. Seit Jahren wohnt er bereits hier, doch noch immer hat er sich die Stadt nicht zu einer Freundin machen können. Vielleicht ist sie zu groß, obwohl es eine kleine Stadt ist. Vielleicht ist er zu klein, obwohl viele Menschen viel kleiner sind als er.
Aus einem Hauseingang tritt eine Person ins Freie und geht einige Meter vor ihm in die gleiche Richtung wie er. Es ist eine Frau, einen Moment lang wirken ihre Haare wie der Helm von Darth Vader, kompakt und schwarz und glänzend. Er kann mit Star Wars nichts anfangen. Sie ist klein, die Frau, und in der Mitte geht ihr Körper merklich auseinander. Er ist sich nicht sicher, ob er ihren Hintern in der sich offenbarenden Breite attraktiv findet oder nicht, auch denkt er kurz darüber nach, wie die Frau wohl von vorne und bei Tageslicht aussieht, doch eine vertiefte Aufmerksamkeit schenkt er ihr nicht. Er geht hinter ihr her, in gleicher Geschwindigkeit, und sie ist ihm ziemlich egal. Er blickt hinauf zum Himmel und versucht, ein Sternbild zu erkennen, doch die Lichter der Stadt sind zu hell, er sieht nur einige der hellsten Sterne. Irgendwann bemerkt er, dass die Frau kurz zum ihm nach hinten blickt. Einige Sekunden später tut sie es erneut, dann wieder, und wieder, und jedes Mal scheint es, als würde sie danach ein wenig schneller gehen. Es dauert eine Weile, bis er erkennt, dass sie sich offensichtlich fürchtet; nicht vor der Dunkelheit, nicht vor wilden Tieren, sondern vor ihm. Das ist ihm unangenehm. Er will niemand sein, vor dem man sich fürchten muss, und es betrübt ihn, dass die Frau zweifellos gute Gründe hat, sich zu fürchten, wenn sie allein in der Dunkelheit unterwegs ist und ein Mann hinter ihr geht.
Er denkt daran, wie viele Frauen ihm erzählt haben, dass sie in ihrem Leben bereits einmal belästigt oder bedrängt oder vergewaltigt worden sind, und er fragt sich, wie vielen weiteren Frauen, die er kennt, dies bereits widerfahren ist, sie es ihm aber nicht erzählt haben, und er fragt sich, ob es überhaupt Frauen gibt, denen absolut nichts dergleichen zugestoßen ist. Er fragt sich, ob er fähig wäre, eine Frau zu vergewaltigen. Er fragt sich, was einem Mann durch den Kopf geht, der dazu fähig ist. Er fragt sich, ob er einen Mann kennt, der es getan hat. Er fragt sich, und er fürchtet die Antworten, zumindest einige davon. Er würde gerne zur Frau vor ihm hingehen und ihr sagen, dass sie sich nicht fürchten müsse, doch er kommt sich dumm vor.
Ein weiteres Auto nähert sich von vorne, erneut sind die Scheinwerfer viel zu hell. Die Frau vor ihm hebt sich als schwarze Silhouette vom Lichtkegel ab. Die Haare wirken nicht mehr wie der Helm von Darth Vader, sie sind viel leichter und luftiger im gleißenden Licht. Die Frau wendet erneut den Kopf, blickt kurz nach hinten und geht weiter. Sie ist ein Reh, und in gewisser Weise fährt das Auto vielleicht nie wirklich an ihr vorüber, bleibt ihr stets auf den Fersen.
Irgendwann biegt er ab, obwohl er nicht müsste, schlägt eine andere Richtung ein und weiß gar nicht wirklich, ob er der Frau einen Gefallen tut oder sich selbst. Sein Kopf ist schwer. Am Horizont kündigt sich das Licht des Morgens an. Im Wald atmen die Rehe leise durch.

Eine gute Geschichte, eine stille,
trotz der Scheinwerfer, die die Nacht hin und wieder durchschneiden,
und eine voller Gedanken, keinen lustig leichten und sorglosen,
sondern sehr nachdenklichen, die man mitdenken möchte
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Vielen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und Mitdenken und für deine Worte, die mich sehr freuen. Herzliche Grüsse…
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