Dana steigt in ein Flugzeug und schluckt einige Male leer, bis der Hals schmerzt. Sie hat vor nichts und niemandem so große Angst wie vor dem Fliegen. Die Angst hockt nicht nur in ihrem Kopf, sondern breitet sich im ganzen Körper aus, fließt in alle Glieder. Nachdem sie sich auf ihren Platz mit der Nummer 21A gesetzt hat, schnallt sie sich an und blickt aus dem Fenster auf den Flugplatz. Ein Mann steht gelangweilt neben einem Kofferwagen und mustert eine Stelle auf dem Boden vor seinen Füssen. Dana beobachtet ihn und fragt sich, woran er denkt, und weil sie sich fragt, woran er denkt, muss sie nicht darüber nachdenken, dass sie in einem Flugzeug sitzt, das gleich abheben wird. Nach einigen Minuten verschwindet der Mann, und schließlich fährt das Flugzeug auf das Rollfeld. Als es abhebt, krallt Dana ihre Finger in die Armlehnen. Ihr ist übel und schwindlig, sie zittert, kalter Schweiß treibt aus ihren Poren. Sie rutscht auf dem Sessel hin und her und starrt auf den Plastikklapptisch vor ihr. Fasten seat belt while seated. Live vest under your seat. Die Buchstaben flackern und tanzen und kippen leicht zur Seite. Der Mann neben ihr bemerkt, dass sie nervös und ängstlich ist, und versucht, sie zu beruhigen. Fliegen ist viel sicherer als Autofahren, sagt er, und sie verzichtet darauf, ihm zu erzählen, dass sie diesen Satz schon tausend Mal gehört hat, sondern nickt schweigend. Sie können ganz beruhigt sein, sagt er, doch sie ist nicht beruhigt, eher verärgert. Ihre Angst ist vollkommen unbegründet, sagt er, und sie denkt, dass sie eigentlich keine Begründung braucht. Danach sagt er nichts mehr und isst schweigend einige Erdnüsse. Dana betrachtet weiterhin die beiden Sätze vor ihr. Fasten seat belt while seated. Live vest under your seat. Sie weiß, was diese Sätze bedeuten, doch sie weiß nicht, was sie mit diesem Wissen anfangen soll. Kurze Zeit später beginnt das Flugzeug zu ruckeln und zu zucken. Dana blickt sich um und schaut den Mann neben ihr an, doch er knabbert weiterhin an seinen Erdnüssen und scheint unbesorgt zu sein. Schließlich hört das Ruckeln und Zucken wieder auf, das Flugzeug gleitet ruhig durch die Luft. Vielleicht kann ich tatsächlich beruhigt sein, denkt sie. Vielleicht werde ich dereinst über meine Angst lachen. Vielleicht wird alles gut. Vielleicht. Einige Sekunden später hört Dana ein seltsames Zischen, das immer lauter wird. Dann ist plötzlich alles still.
Sechs Stunden zuvor saß Dana noch in einem kleinen Café und trank einen Cappuccino. Hin und wieder musterte sie den gutaussehenden und charmanten Kellner, blickte ihm auf den Hintern oder auf die Konturen seines Gesichtes. Seine langen Finger waren ihr aufgefallen, als er ihr die Kaffeetasse hingestellt hatte, und einen Moment lang malte sie sich aus, wie er diese Finger über ihren Körper gleiten ließ. Dass er sie in genau diesem Moment ansah, konnte nur ein Zufall gewesen sein, trotzdem fühlte sich Dana ertappt und senkte ihren Blick. Der Milchschaum auf ihrem Cappuccino hatte auf der Innenseite der halbleeren Tasse eine kleine bräunliche Form hinterlassen, dessen Umrisse an ein Herz erinnerten. Vielleicht war es auch nur ein Schuh. Sie dachte daran, dass sie in einigen Stunden in ein neues Leben fliegen würde, und wenn nicht in ein neues Leben, dann zumindest in ein neues Kapitel, einen neuen Abschnitt. Sie hatte zunächst mit dem Zug fahren wollen, aber die Distanz war zu groß, die Reise hätte zu lange gedauert, also buchte sie einen Flug, obschon bereits der Gedanke an das Fliegen ihr Unbehagen bereitete. Vielleicht braucht es das, sagte Dana zu sich selbst, nicht zum ersten Mal. Eine Zäsur, einen klaren Schnitt, und deshalb ein deutliches Zeichen, einen Akt, der Überwindung kostet. Sie hatte sich verirrt, hatte sich verrannt, das wusste sie schon lange, doch nun war es höchste Zeit, neue Wege zu finden. Und wenn sie dafür in ein Flugzeug steigen musste, dann würde sie es eben tun. Erneut fand ihr Blick den Kellner, der gelangweilt neben der Theke stand und eine Stelle auf dem Boden vor seinen Füssen musterte. Dana beobachtete ihn und fragte sich, woran er dachte, und weil sie sich fragte, woran er dachte, musste sie nicht darüber nachdenken, dass sie bald in einem Flugzeug sitzen würde, und auch nicht darüber, warum sie es tat. Schließlich blickte der Kellner auf und schaute in Danas Richtung, woraufhin sie sich abrupt abwandte und das Zuckertütchen neben der Kaffeetasse auf dem Tisch betrachtete. Das Gute wird erst gut, wenn man es tut, stand darauf geschrieben. Dana lächelte. Dann winkte sie dem Kellner, bezahlte ihren Cappuccino und machte sich auf den Weg zum Flughafen.

Ja, was war denn nun mit dem seltsamen Zischen,das immer lauter wurde? Und die plötzliche Stille? Ist das Flugzeug abgestürzt, oder erlitt die Frau einen Hörsturz, der es ihr unmöglich machte, auch noch geringste Schallereignisse wahrzunehmen?
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Vielleicht bringt ein Blick auf die Schlagworte/Tags ein wenig Klarheit… Vielen Dank dir fürs Lesen!
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Unsere eigene Angst ist nicht die der anderen, zu erklären ist sie nicht, weil es sich vermutlich um eine Urangst handelt. Ich habe diese Angst wenn das Flugzeug zu rollen beginnt, ich die Motoren höre, diese geballte Kraft, die ich nicht nachvollziehen kann.
Ich kann mir nicht vorstellen, das der schwere Riese in der Lage ist, abzuheben und sich in der Luft zu bewegen. Ich bin ein Erdenkind, weder Vogel noch Schmetterling … und das Fliegen ist für mich das falsche Element
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Dem Menschen bleibt das selbständige Fliegen verwehrt; vielleicht ist die Angst vor dem Fliegen, die manche Menschen empfinden, einfach eine instinktive Abwehrreaktion… Und ja, jemand anderem eine Angst vollumfänglich erklären zu können, ist ein Versuch, der wohl zum Scheitern verurteilt ist…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni!
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Als mein Sohn das erste Mal flog, war er ca. 5. Die beiden anderen aus der Familie waren mit dem Auto zum Zielort gefahren. Das Flugzeug kam in richtige Turbulenzen und ich muss wohl grün ausgesehen haben. Da griff mein Sohn zu mir rüber und meinte: „Du musst keine Angst haben, ich bin doch bei dir“. Das hat mich echt getröstet.
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Einen solchen Mit-Passagier hätte wohl jede/r gerne, ob mit oder ohne Flugangst…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte (und deinem Sohn für den Trost)!
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Er weiß diese Situation nur noch vom häufigen erzählen. Denn es war vor über 40 Jahren, also schon eine Weile her
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Aber es wirkt (offensichtlich) noch nach, jedenfalls bei dir…
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