Er war schon früher immer zu spät dran. In der Schule war Leo stets das letzte Kind, das morgens eintraf, in der Regel nach Unterrichtsbeginn, obwohl er doch frühzeitig aus dem Haus ging und kaum trödelte. Die anderen Kinder grinsten manchmal, wenn er ins Klassenzimmer schlich, die Lehrerin hob bisweilen ihren Zeigefinger, und einige Male musste er zur Strafe nachsitzen, doch mehr geschah nicht, und Leo fand sich damit ab, dass es ihm nicht zu gelingen schien, pünktlich zu sein.
Wenn seine Kameraden eine Zeit vereinbarten, um sich zu treffen und etwas zu unternehmen, war Leo meistens erst dann vor Ort, wenn alle anderen diesen Ort längst verlassen hatten und losgezogen waren. Er ging dann alleine los, und manchmal fand er seine Kameraden auch, doch häufig war er auf eigene Faust unterwegs, was eine gute Vorbereitung für sein späteres Dasein darstellte, was ihm damals natürlich noch nicht bewusst war.
Sogar bei seiner Geburt war Leo zu spät dran. Seine Mutter hatte seinen Namen gewählt, weil sein errechneter Geburtstermin im Bereich des Tierkreiszeichens Löwe lag. Doch Leo kam erst am 23. August zur Welt, als das Tierkreiszeichen bereits auf Jungfrau gewechselt hatte. Sein Vater war zu jenem Zeitpunkt längst fortgegangen. Leo war zu spät dran, um ihn noch kennenzulernen.
Seine Mutter nahm ihm seine verspätete Geburt nicht übel. Sie nahm ihm überhaupt nichts übel, weder sein schlecht ausgeprägtes Zeitgefühl noch seine anderen Unzulänglichkeiten, von denen er durchaus einige hatte; er war relativ unordentlich, häufig sehr schweigsam, machte hin und wieder schlechte Witze und hatte keine allzu guten Tischmanieren. Stattdessen lehrte ihn seine Mutter, dass die Unzulänglichkeiten nur ein weiterer Teil der Persönlichkeit eines Menschen seien, wie auch die Vorzüge und Fähigkeiten, wobei es ratsam sei, den Vorzügen und Fähigkeiten mehr Beachtung zu schenken als den Unzulänglichkeiten. Somit verdankte es Leo seiner Mutter, dass ihn sein regelmäßiges Zuspätkommen nicht sonderlich störte, er hingegen durchaus zufrieden war, dass er gemeinhin als guter Zuhörer, talentierter Badmintonspieler und rücksichtsvoller Liebhaber galt.
Natürlich hatte er auch an jenem Tag den Zug verpasst, war nach Feierabend zu spät am Bahnhof eingetroffen. Er machte sich nicht viel daraus, es war schließlich nichts Außergewöhnliches, zudem war es ein lauer Frühsommerabend. Zwar freute sich Leo, seine Freundin zu sehen, doch er würde ja nicht viel später als üblich nach Hause kommen, also trat er den Heimweg zu Fuß an. Er mochte das blaugrüne Licht in diesen fortgeschrittenen Stunden des Tages, mochte die Art und Weise, wie die Lautstärke der Welt allmählich abnahm, als hätte jemand einen unsichtbaren Drehregler bedient.
Als er die Gestalt vor ihm auf der Brücke erblickte, dachte er sich nicht viel dabei, zumal die Person aufgrund ihrer schlanken Statur und ihrer gebückten Haltung kaum auffiel. Erst beim Näherkommen schien ihm die Situation merkwürdig, die Gestalt wirkte seltsam fehl am Platz, wie sie ohne sichtbare Regung am Brückengeländer stand und nach unten blickte. Es war ein überraschend junger Mann, im schwindenden Licht des Abends sah sein Gesicht von der Seite beinahe kindlich aus. Zunächst ging Leo an ihm vorüber, doch nach einigen Metern hielt er inne. Er starrte kurz auf einen Punkt auf dem Boden, an dem es gar nichts zu sehen gab. Dann drehte sich Leo um, ging ein paar Schritte zurück und stellte sich neben den jungen Mann ans Brückengeländer.
Wartest du auf jemanden?, fragte Leo vorsichtig.
Nein, gab der junge Mann zurück. Seine Stimme war überraschend tief und voll und schien nicht zu seinem schmächtigen Körper zu passen.
Dann genießt du einfach die Abendstimmung?
Von Genießen kann kaum die Rede sein.
Leo und der junge Mann standen nebeneinander am Brückengeländer und blickten hinab. Weit unten schob der schmale Fluss das Wasser voran, das Rauschen drang hinauf und vermischte sich mit dem sporadischen Brummen vorbeifahrender Autos. Als Leo den jungen Mann ansah, entdeckte er eine Träne, die sich ihren Weg über die Wange im kindlichen Gesicht suchte.
Willst du darüber reden?
Worüber?, erwiderte der junge Mann.
Darüber, weshalb du heute hier stehst.
Nein, will ich eigentlich nicht.
Nach einigen weiteren Minuten des Schweigens wollte der junge Mann dann aber doch. Er begann plötzlich zu reden, erzählte von den tonnenschweren Tagen, in denen er mit niemandem sprechen mochte, erzählte von den schlaflosen Nächten, in denen er darüber nachdachte, was ihm wichtig war, und keine Gesichter erkennen konnte.
Weißt du, was mich traurig macht?, fragte der junge Mann und hatte Mühe, seine Stimme vor dem Wegbrechen zu bewahren. Leo verneinte.
Dass es nichts gibt, das mich traurig macht. Alles ist so gleichgültig. Ich wünsche mir manchmal, dass ich an Krebs erkranke oder einen schweren Unfall habe. Irgendetwas, das meine Traurigkeit rechtfertigt.
Warum musst du deine Traurigkeit rechtfertigen?, wollte Leo wissen.
Man kann doch nicht grundlos traurig sein, nicht wahr?
Natürlich kann man. Ich bin immer wieder traurig.
Bist du denn jetzt traurig?
Leo schüttelte den Kopf.
Nein, jetzt bin ich nicht traurig. Jetzt bin ich ziemlich dankbar und zufrieden.
Warum denn? Weil du meinem Gejammer zuhören durftest?
Ja, genau, lachte Leo. Obwohl ich es nicht Gejammer nennen mag. Aber ich durfte dir zuhören, durfte dich kennenlernen. Das ist viel wert.
Wenn du meinst, sagte der junge Mann und kratzte ein wenig Dreck unter dem Fingernagel hervor und schnippte ihn weg.
Erneut standen die beiden Männer schweigend nebeneinander am Brückengeländer. Irgendwann räusperte sich der junge Mann und meinte, dass er nun gehen müsse, seine Mutter mache sich bestimmt Sorgen.
So sind Mütter, ja. Mütter sind sorgenvoll. Mütter sind wundervoll, sagte Leo.
Wahrscheinlich, ja.
Nachdem sie sich verabschiedet hatten und Leo einige Schritte gegangen war, hörte er den jungen Mann hinter sich nach ihm rufen und drehte sich um.
Danke, sagte der junge Mann mit seiner tiefen, vollen Stimme.
Kein Problem, erwiderte Leo. Ich danke dir.
Dann ging Leo nach Hause. Er wusste, dass er ein weiteres Mal zu spät kommen würde, und falls seine Freundin bereits gekocht hätte, dürfte das Essen bereits kalt sein. Sie würde wohl verärgert sein, aber er würde es ihr erklären können. Und er war sich sicher, dass sie es verstehen würde.

was heißt das schon, zuspätkommen?
Wichtig ist doch, man selbst zu sein, selbst wenn man ein Träumer oder einfach ein trödeliger Mensch ist. Zuspätkommen hat meist Gründe und Du hast es hier in eine so feine und richtig klingende Geschichte gepackt.
Ich habe leider auch diese Tendenz, aber ich schaffe es immer, dieses Zuspätkommen einigermaßen im Rahmen zu halten, so daß es niemandem wehtut und es mir niemand verübelt.
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…und eben, hin und wieder kommen auch die Zuspätkommenden genau zur richtigen Zeit…
Und ja, ich denke auch, dass es wichtiger ist, sich selbst treu zu bleiben und nicht der Uhrzeit…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni…
Herzliche Grüsse
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Könntest du auch eine Geschichte schreiben, die mir NICHT gefällt? Falls du das wirklich willst, dann schreibe über Politik oder über Fußball – aber nicht in deinem Stil, sonst gefällt mir auch das noch.
Mit Gruß
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Hahaha, das ist gut.
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Ha! Eine Fussballgeschichte habe ich sogar mal geschrieben…
https://disputnik.com/2015/03/02/keine-halben-sachen/
Wie auch immer, mich freut es sehr, dass du meine Texte gerne lesen magst. Herzlichen Dank dafür und für deine Worte! Und liebe Grüsse zurück…
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So hat sein ständiges zu spät kommen ja doch einen Sinn.
Manchmal ist es echt hilfreich zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
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Ja, die Kombination aus richtiger Zeit und richtigem Ort führt häufig zu sehr schönen Resultaten!
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Oder auch lebensrettenden…
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Genau…
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… mono no aware pur …
Leo kam nicht zu spät zum jungen Mann auf der Brücke. Vielleicht rettete er ihm sogar das Leben. Wer weiß…
Liebe Mittagsgrüße vom Finbar
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Vielen herzlichen Dank dir, lieber Finbar! Ja, für einmal kam Leo nicht zu spät, wie es scheint…
Liebe Nachmittagsgrüsse zurück zu dir!
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