Es war nicht seine Idee gewesen. Sie hatten ihn gefragt, und zunächst hatte er abgelehnt. Schließlich hatte er sich zur Ruhe gesetzt, und gerade diese Ruhe war der Grund, weshalb er überhaupt in dieses kleine Dorf gezogen war, von welchem er zuvor noch nie gehört hatte. Es war Rückzug, in jeder Hinsicht. Warum sonst sollte er in diesem verlassenen Nest wohnen wollen? Er hatte Nein gesagt, immer wieder. Doch sie hörten nicht auf, ihn zu bedrängen, zu bestürmen. Irgendwann mochte er nicht mehr abwehren. Und willigte ein.
Er hatte von Anfang an klargestellt, dass er es richtig machen wolle. Dass er vollen Einsatz geben werde und diesen vollen Einsatz auch von den Spielern erwarte. Keine halben Sachen, hatte er gesagt. Sonst hat das ganze gar keinen Zweck. Man erreicht nichts, hat einfach einen großen Klumpen nichtsnutziger Scheiße im Weg rumliegen. Das ist doch das Problem heutzutage, erklärt er. Daran geht die Welt noch zugrunde, an dieser Halbherzigkeit, diesem unverbindlichen Schlenkern. Er ist nicht so. Er will nicht so sein. Und das wussten sie, als sie ihn fragten.
Keine halben Sachen. Das hatte er den Spielern am ersten Tag eingebläut, beim ersten Training auf diesem lausigen Acker, den sie hier Fußballplatz nennen. Ihr werdet rennen, hatte er befohlen. Ihr werdet rennen, nach vorne und wieder zurück. Keiner trödelt, keiner lahmt. Müde ist man erst, wenn man umfällt. Und wenn man umfällt, steht man gefälligst wieder auf und rennt weiter. Einige glaubten nicht an die Ernsthaftigkeit seiner Worte. Doch mittlerweile hat er auch sie überzeugt, dass er meint, was er sagt.
Die Spieler haben es kapiert. Die Eltern nicht. Er sei nicht mehr im Zirkus der großen Teams, sagen sie. Er sei Trainer einer Juniorenmannschaft in einem kleinen Dorf, nicht mehr auf internationalem Parkett. Er solle nicht so hart ins Gericht gehen mit den Jungs, das seien doch noch Kinder. Man komme sich ja vor wie im Krieg, immer nur kämpfen und siegen. Ihr Pfeifen, antwortet er dann, ohne Kampf geht es nicht. Haltet einfach die Schnauze und lasst mich machen, schreit er. Sonst bin ich raus. Ihr habt mich gefragt. Und ich hab gesagt, dass es nur läuft, wenn es nach mir läuft. Dann verstummen sie wieder. Bis zum nächsten Spiel.
Ihm wurde schließlich auch nichts geschenkt. Weder im Fußball noch im Leben. Er hat gekämpft. Verdammt. Was er erreicht hat, war kein Zufall, kein Glück. Er hat sich alles erarbeitet. Ein goldener Löffel im Arsch mag ja ganz toll sein. Aber auf dem Platz nützt er rein gar nichts. Und Samthandschuhe ebenso wenig. Wer im Kleinen nicht groß denkt, wird nie Großes schaffen, das weiß er aus Erfahrung. Und diese Erfahrung wollten sie doch von ihm. Diese Erfahrung sollte er ihren Kindern weitergeben.
Ob er denn nicht ein wenig lockerer und entspannter an das Ganze herangehen könne, fragen sie ihn. Das macht ihn dann richtig wütend. Lockerer und entspannter!? Vielleicht ist er beim letzten Mal etwas zu laut und explizit geworden, das kann gut sein. Aber so ist er eben. Keine halben Sachen. Er hat’s ein wenig übertrieben. Aber das rechtfertigt nicht, wie sie sich nun verhalten. Es ist kein Grund, ihm ein Ultimatum zu stellen, ihm zu drohen, ihn zu drängen. Was fällt ihnen ein? Er macht nur seinen Job, und er macht ihn gut.
Als er am Spielfeldrand steht, ist niemand zu sehen, er ist allein auf dem großen Platz. Sein Blick folgt den weißen Linien, diesen klaren Strukturen, die sich ausbreiten, vor seinen Augen und in seinem Innern, so bekannt und gewohnt wie keine anderen Formen seines Daseins. Im Augenwinkel erscheint ein Punkt. Jemand hat einen Ball vergessen, er liegt an der Seitenlinie, alt und zerfleddert. Er geht langsam hin, berührt den Ball ganz vorsichtig. Er spielt ihn einige Meter von sich weg, läuft ihm nach, wiederholt die Aktion, bis der Ball rund dreißig Meter von einem Tor entfernt liegen bleibt. Er atmet ein, atmet aus, stützt seine Arme auf die Oberschenkel. Wenn ich treffe, dann bleibe ich, denkt er sich. Wenn ich verfehle, dann gehe ich. Er nimmt Anlauf und schießt. Im ersten Moment stimmt die Richtung, doch dann krümmt die Flugbahn des Balles sich immer mehr zur Seite. Schließlich prallt das Leder an die Seitenstange und von dort zurück ins Feld.
Er hält den Atem an, stemmt seine Hände in die Hüften und starrt auf das Tor. Minutenlang steht er auf dem Feld, regungslos und stumm. Einen Moment lang scheint es, als würde sich die Querlatte biegen. Er presst die Lider zusammen, dann blinzelt er. Irgendwann senkt er seinen Blick und mustert die Schuhspitze.

Fein und ergreifend geschrieben,
lieber Disputnik,
ich verstehe von Fussball nur so viel:
es geht um Geld, um viiiiel Geld,
und das allein stört mich dann schon immens…
so nach dem Motto:
Spieler A wird an Verein B für 100 Mio. Euro „verkauft“,
damit Verein B noch etwas besser wird, und noch mehr Titel holt
(Bayern München zum Beispiel… und da wäre mir – ehrlich gesagt – lieber,
wenn die nun auch mal ein paar halbe Sachen machen würden…)
ich selbst finde halbe Sachen gut — warum nicht?
Nicht alle können oben auf der Pyramide sitzen…
herzliche Grüße
vom Finbar
LikeLike
Ich verstehe von Fussball zweifellos weniger als du, lieber Finbar. Aber ja doch, ich kann auch halben Sachen Gutes abgewinnen, sogar Viertelsachen… Und es freut mich sehr, dass dir der Text trotz allem gefällt…
Herzliche Grüsse zurück…
LikeLike
Er gefällt mir nicht nur, lieber Disputnik, sondern er beschäftigt mich ganz besonders lange…
denn ich frage mich, wie es dir so gut gelingen konnte, diese irgendwie „brüchige“ ländliche Stimmung derart genial einzufangen!
Liebe Abendgrüße vom
Finbar
LikeLike
Herzlichen Dank für das Kompliment, lieber Finbar! Ganz liebe Abendgrüsse zurück…
LikeLike