Eva hört ein leises Knacken, dann den Schlüssel im Schloss. Eine Sekunde lang bleibt alles stumm, und in diesem Moment breitet sich die Gewissheit im Raum aus, legt sich wie ein schweres Tuch auf ihren Körper. Sie ist ertappt, wurde erwischt. Als sie glaubt, das Knarren der Wohnungstür zu vernehmen, richtet sie sich ruckartig auf.
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An der Wand im Flur hängt ein alter Bilderrahmen aus dunklem Holz, und in diesem Rahmen umarmen sich zwei Menschen, eine Frau und ein Mann, sie sind festlich gekleidet und gut frisiert, sie lachen. Der Tag in diesem Rahmen ist ein Hochzeitstag, der Mann ist ihr Mann, die Frau ist sie. Das ist ihr Leben, in diesem Rahmen, in diesen Wänden, und es ist gut, dieses Leben. Der Boden ist sauber, die Mauern sind solid, die Fenster sind an manchen Stellen ein wenig fleckig, aber die Aussicht, sie ist ziemlich schön.
Manchmal sitzt Eva mit ihrem Mann Fred am Küchentisch, er liest Zeitung, sie blättert in einem Magazin, beide sind schweigsam, und dann, ganz zufällig, beginnen sie gleichzeitig zu sprechen, über etwas, das sie gelesen haben oder ihnen durch den Kopf geht, und dann lachen sie, ebenfalls gleichzeitig. Diese Zufälle, sie sind ziemlich schön.
Ihre Väter und Mütter, ihre Freiheit, ihre Freizeit, ihre Bekannten und Freunde, ihre Interessen und Freuden, all das legt sich wie ein weiches Netz um ihre Schultern. Natürlich wird sie nass, wenn es regnet, und wenn der Wind zu heftig wird, sehen die Haare zerzaust aus, aber im Allgemeinen ist ihr Leben wohlig warm, und dieses Wohlige und Warme, auch das ist ziemlich schön.
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Als Maria und Louis, ein befreundetes Paar, das eine Etage höher im gleichen Haus wohnt, in Urlaub fahren, sind Eva und Fred natürlich gerne bereit, die Katze zu füttern und die Pflanzen zu gießen. Meistens ist es Eva, die sich darum kümmert, schließlich arbeitet sie im Gegensatz zu Fred nur vormittags und hat nachmittags Zeit für derartige Dinge. Zunächst tut sie es sehr effizient, sie betritt die Wohnung, lüftet kurz durch, füllt den Futternapf, prüft die Erde in den Töpfen und geht wieder. Eines Tages jedoch, als sie nach den üblichen fünf Minuten wieder zurück nach Hause gehen will, macht Eva auf der Schwelle kehrt.
Sie blickt sich in den vier Wänden ihrer Freunde um, betrachtet die Bilder an den Wänden, schreitet achtsam durch alle Zimmer. Sie berührt Porzellanfiguren, zieht wahllos Bücher aus dem Regal, lässt ihre Finger über den Stoff der Couch wandern. Im Schlafzimmer setzt sich Eva auf das breite Bett, langsam und vorsichtig, als befürchte sie, es würde ihrem Gewicht nicht standhalten. Minutenlang sitzt sie aufrecht auf der Bettkante, starrt auf ein abstraktes Gemälde an der Wand. Irgendwann lässt sie ihren Oberkörper nach hinten kippen und schiebt sich weiter in die Mitte der Matratze. Sie dreht sich zur Seite und schaut zum kleinen Nachttisch. Ihr Blick hängt wie festgeklebt an der Kante der Holzplatte, fixiert eine kleine Absplitterung. Schließlich öffnet sie zaghaft die Schublade. Da sind Papiertaschentücher und Taschenbücher, zwei Tuben Handcreme, Kondome. Und da sind Polaroidfotos, Aufnahmen von Maria und Louis. Beide sind nackt, offensichtlich wurden die Fotos in diesem Zimmer aufgenommen, auf diesem Bett, und mindestens zwei Bilder zeigen die beiden unmittelbar beim Sex. Eva sieht sich beschämt um, glaubt sich beobachtet, und eigentlich will sie die Bilder bereits wieder in die Schublade legen. Doch sie zögert. Ohne sich konkrete Gedanken zu machen, betrachtet sie die Bilder, eines nach dem anderen, immer wieder, forscht nach Details, registriert Posen und Stimmungen. Irgendwann hält sie drei Fotos wie einen Fächer in einer Hand, öffnet mit der anderen Hand die Knöpfe ihrer Jeans und schiebt die Finger unter den Baumwollstoff ihres Slips. Das zuckende Aufbäumen kommt erstaunlich schnell und ungewohnt heftig, und als sich ihr Atem allmählich wieder verlangsamt, spürt sie eine Träne im Augenwinkel.
Natürlich erzählt sie Fred nichts davon. Doch in den nächsten Tagen kehrt sie immer wieder in das nachbarliche Schlafzimmer zurück, legt sich auf das Bett. Manchmal holt sie die Fotos hervor, manchmal nicht. In einer breiten Kommode entdeckt sie Wäschestücke von Maria. Sie lässt sie durch die Finger gleiten, riecht am weichen Stoff. Später entkleidet sich Eva vollständig und zieht Marias Unterwäsche an. Ihre Hände wandern über ihren Körper, der sich anders anfühlt als sonst, seltsam irgendwie, seltsam schön. Als plötzlich die Katze auf das Bett springt, zuckt Eva heftig zusammen und schreit schrill auf. Sie beißt sich auf die Unterlippe und verflucht sich, weil sie dem stoischen Blick der Katze ausweicht.
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Einige Tage später sind Maria und Louis wieder zurückgekehrt. Als Eva den Schlüssel zurückbringt und mit inszeniertem Interesse den Urlaubserzählungen lauscht, tastet sie mit ihren Fingern nach dem Duplikat des Schlüssels in ihrer Hosentasche, das sie hat anfertigen lassen. War die Wohnung ihrer Freunde in den letzten Tagen immer vertrauter und wärmer geworden, fühlt sie sich nun fremd an, ein unpersönliches Gehäuse mit widrigen Konturen. Rasch murmelt Eva eine Entschuldigung und verabschiedet sich wieder.
Zunächst wagt sie nicht, den nachgemachten Schlüssel zu benutzen, doch eines Nachmittags, als sowohl Fred als auch Maria und Louis ohne Zweifel arbeiten und nicht zu Hause sind, gibt Eva dem inneren Drängen nach. Und nach dem ersten Zittern stellt sie fest, dass die Gefahr, überrascht und erwischt zu werden, einen zusätzlichen Reiz entfaltet. So oft wie möglich geht sie nach oben in die Wohnung, atmet den Geruch ein und spürt die Fasern des Lakens auf ihrer Haut. Manchmal streichelt sie sich bedächtig, lässt die Finger sanft stolpern, dann wieder presst sie ihre Hände nahezu gewaltsam gegen ihre Brüste und zwischen die Beine. Und häufig liegt sie einfach nur im kühlen Schlafzimmer, betrachtet den Vorhang vor dem gekippten Fenster, der sachte im Wind wogt, oder lauscht mit geschlossenen Augen der Stille.
Fred verwittert. Sie weiß nicht, ob sie es zuvor nicht gemerkt hat oder ob es erst seit kurzer Zeit so ist, aber seine Haut scheint allmählich grau zu werden, die Knochen im Gesicht wirken kantiger. Selbst im Rahmen an der Wand im Flur bleicht er aus. In seinem Arbeitszimmer hängt neuerdings ein Bild, ausgedruckt auf Papier, es zeigt ein verwundetes Reh in einer verschneiten Landschaft. Als Eva ihn fragt, was es zu bedeuten hat, zuckt er mit den Schultern und sagt mit matter Stimme, dass ihm die Aufnahme einfach gefalle, mehr nicht.
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An einem Freitagabend sind Eva und Fred bei Maria und Louis zum Essen eingeladen. Während man vegetarische Lasagne verspeist, Rotwein trinkt und Banalitäten austauscht, ertappt sich Eva immer wieder dabei, wie sie ihre Freunde mustert. Ihr Blick taumelt über Marias Hals zu ihren Brüsten, dann zu den Händen und Armen von Louis, und sobald Eva blinzelt, sieht sie die gleichen Menschen, aber in anderen Bildern. Sie ist ungewöhnlich fahrig, rutscht nervös auf der Stuhlfläche nach vorn und wieder zurück. Irgendwann sieht sie zu Fred und erschrickt. Er starrt sie an, vollkommen regungslos, die Augen sind matt und fahl. Eva versucht zu lächeln, doch sie weiß, dass sie scheitert. Freds Augen zucken kurz, dann senkt er seinen Blick und betrachtet aufmerksam seine Gabel.
Irgendwann stellt ihr Louis eine Frage, doch Eva kennt die Antwort nicht, sie hat nicht zugehört. Sie stammelt einige verunsicherte Worte und entschuldigt sich, geht zur Toilette. Sie stellt sich vor den Spiegel, fixiert ihre Pupillen und versucht, dem Lauf der Zeit auszuweichen. Bald darauf verabschieden sich Eva und Fred, gehen schweigend zurück in ihre Wohnung, vorbei am alten Bilderrahmen aus dunklem Holz, der im Flur an der Wand hängt.
Eigentlich weiß Eva, dass sie ihre geheimen Ausflüge in die Wohnung von Maria und Louis unterlassen sollte. Das tut man nicht, sagt sie zu sich selbst. Und tut es dennoch weiterhin. Manchmal wundert sie sich, warum sie es nicht lassen kann, und warum sie überhaupt damit angefangen. Doch meistens ist sie einfach froh, dass sie den Geruch jener Räume atmen kann.
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Zuerst hört sie ein leises Knacken, dann den Schlüssel im Schloss. Eine Sekunde lang bleibt alles stumm. Als Eva glaubt, das Knarren der Wohnungstür zu vernehmen, richtet sie sich ruckartig auf, sucht ihre Kleider, zieht sich hastig an. Dann steht sie im kühlen Schlafzimmer, ein wenig zitternd, unterdrückt atmend. Der Vorhang vor dem gekippten Fenster wogt sachte im Wind.

Ein sehr schöner Text! Ich mag wie Du diese Sehnsucht erfasst, die danach drängt, aus der Routine auszubrechen und sich selber wieder zu spüren durch den Reiz des Anderen, des Fremden, des Verbotenen. Der Prolog gibt dem Ganzen die Spannung.
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Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken… Freut mich sehr, dass dir der Text gefällt…
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Eva lässt es also darau ankommen, erwischt zu werden… Das ist schon beim Lesen ein Gefühl zwischen Spannung und Gruseln. Spürt Eva dabei ein erotisches schauern? Oder hinterlässt sie vielleicht später einmal ein verräterrisches Indiz? vielleicht ein Teil ihrer Unterwäsche? Das wäre ein erregender Gedanke.
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Ich weiss nicht, wie stark es die Lust am Verbotenen ist, die sie antreibt… Aber natürlich liesse sich die Geschichte auf unterschiedliche Weise weiterdenken, und es freut mich sehr, dass du’s tun magst… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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ich denke, wenn man das Leben der anderen braucht, um sich lebendig zu fühlen, dann herrscht im eigenen Innenleben große Kargheit. Um diese zu beleben, bedarf es einer eigenen neuen Lebendigkeit, die der anderen hilft absolut nichts. Es sind kurze Momente, die etwas vorgaukeln, aber nichts Haltbares produzieren können.
Die Seele erkrankt immer mehr…
Du hast es toll beschrieben, lieber Disputnik
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Hmmja, die Seele verhungert wohl allmählich in solchen Situationen… Vielen herzlichen Dank für dein Lesen und deine Gedanken…
Liebe Grüsse und ein schönes Wochenende dir…
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Das, was Du beschreibst, ist ja ein bißchen wie Stalking — zumindest, seit die beiden Urlauber wieder zuhause sind. Aber Du be-schreibst es mit einer traurigen, nein, melancholischen Zärtlichkeit, daß ich langsam lesen mußte, meine Phantasie, mein Kopfkino alle Szenen wiedergeben lassen mußte (ja, da bin ich Voyeur, das gebe ich zu).
Ich wünsche mir so sehr, daß es Fortsetzungen gibt … *seufz*
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Das freut und ehrt mich, dass du dir Zeit gelassen hast beim Lesen, und dass du der Melancholie Raum gelassen hast… Vielen lieben Dank dafür, fürs Lesen und für deine Worte…
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Manchmal dringt Leben nur noch durch andere zu einem durch. Die Wahl der Mittel spielt dabei keine Rolle. Weil hier, ist Spüren, ist Vibration. Das duldet keine Zurückhaltung.
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Doch wie viel Leben ist noch drin im Leben, wenn es von anderen stammt? Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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scheinbar mehr, als im eigenen. Ich glaube das Stillen dieses Lebenshungers nährt viele. Ein großes Drama ist das, was du beschreibst.
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Nochmals herzlichen Dank dafür, dass du diesen Beschreibungen deine Gedanken schenkst…
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