Er lag auf grünen Wiesen und stand auf grauen Parkplätzen, schwamm in blauen Ozeanen und sah rote Sonnen. Er traf auf bekannte Menschen mit unbekannten Gesichtern, auf fremde Freunde mit unfreundlichen Absichten. Manchmal wurde er verfolgt, manchmal wurde er erwischt. Manchmal sprang er von Häusern, manchmal wurde er hinuntergestoßen. Da waren Tiere, da waren Bäume, da waren Monster und Kinder, da war ein rotes Auto, warum auch immer. Da waren erotische Begegnungen und banale Gespräche, da waren konfuse Begebenheiten und gepflegte Langeweile. Als kleiner Junge sah er einmal ein lichterloh brennendes Wohnhaus und träumte danach jede Nacht davon, während Wochen und Monaten. Abgesehen von einzelnen außergewöhnlichen Episoden, die wohl bei allen Schlafenden in ähnlichen Formen auftreten und somit gar nicht sonderlich außergewöhnlich sind, war er ohne Zweifel ein ziemlicher Durchschnittsträumer. Und mit der Zeit schien die Intensität der Träume allmählich nachzulassen. Wenn er lange vor dem Tageslicht in der warmen Dunkelheit des Schlafzimmers erwachte, lagen allfällige Träume in der Regel höchstens noch als merkwürdige Fetzen im Gedächtnis, neben diesen Fragmenten blieb nicht viel in Erinnerung. Manchmal waren die geträumten Ereignisse immerhin ein wenig greifbarer, hin und wieder konnte er sich sogar einzelner Details entsinnen, sah die Bilder in ungewöhnlicher Schärfe.
Doch seit einiger Zeit bleibt die Leinwand vollkommen weiß. Es liegt nicht daran, dass er sich nicht erinnern kann. Er erinnert sich sogar sehr genau an seine Träume. Aber alles, was er sieht, ist weißes Nichts. Er träumt keine bizarren Fragmente, keine nichtssagenden Vorkommnisse, keine surrealen Kurzgeschichten. Einfach nur weiß.
Nach dem ersten Traum in Weiß machte er sich keinerlei Gedanken darüber, beim zweiten Mal war er verblüfft ob der Wiederholung. Danach folgten einige Versuche, sich zu informieren, sich Klarheit zu verschaffen, doch die einzige Klarheit blieb das Weiß in den nächtlichen Bildern. Irgendwann spürte er ein Unbehagen, zuerst nur keimend und zaghaft, aber schnell stärker werdend. Mittlerweile ist das Unbehagen einer ungreifbaren Beklemmung gewichen. Natürlich ist da ein gewisses Bedauern, dass da keine Traumbilder mehr sind, und irgendwie vermisst er selbst die furchteinflößenden Gedanken an verstörende Träume, die angenehmen Erinnerungen sowieso. Doch was ihm vor allem die Kehle eng werden lässt, ist diese diffuse Angst. Diese Angst vor dem kahlen und leeren Weiß. Die Angst davor, dass da nichts anderes mehr ist, keine grünen Wiesen, keine grauen Parkplätze, keine blauen Ozeane, keine roten Sonnen. Dass da nichts anderes mehr kommt und nichts anderes mehr bleibt, nur noch eine weiße Ödnis. Und dass sie irgendwann aus der Traumwelt in sein waches Dasein schwappt.
Mittlerweile versucht er, dem Traum zu entrinnen, lässt jede Nacht im Halbstundentakt einen Wecker klingeln, um das Einsinken in den tiefsten Schlaf zu vermeiden, doch es nützt nichts, das Weiß bleibt hartnäckig, er fühlt sich so müde und erschöpft wie nie zuvor. Manchmal brennen die Augen, und er schließt sie für einige Sekunden, um ihnen etwas Erholung zu gönnen, so auch jetzt. Doch dieses Mal sieht er nicht das übliche Dunkelrot im Innern. Sondern einfach nur weiß. Erschrocken reißt er die Augen wieder auf, seine Hände verkrampfen sich, ein Schwindelgefühl ergreift ihn. Seine Lider zittern. Vielleicht hat er sich das weiß Nichts lediglich eingebildet. Vielleicht war es Zufall, ein Trugbild. Vielleicht war es nur ein Traum. Vielleicht.

Oh, sehr schöner Text. Dazu fällt mir ein Gedicht ein, das ich mal geschrieben hab:
überbelichtet
fülle dich!
wiedergekaute Worte
schon etliche Male
gegen meine weiße Welt geschmissen
ist weiß nicht
besser als grau?
das helle Nichts
das zärtlich Unberührte
noch zu Füllende
warm lächelnde
Wortkombinationen
irgendwo
festgehakte Leichtigkeit
was von mir
kann sie bitte tragen?
weiß
hart wie Licht
das nicht atmet.
(01.06.14 23:08)
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Freut mich, dass dir der Text gefällt.
Und vielen lieben Dank für dein wunderbares Gedicht.
Ich mag’s sehr, besonders „wiedergekaute Worte“ und „warm lächelnde Wortkombinationen“. Sehr schön…
Herzliche Grüsse
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Und mich freut, dass dir mein Gedicht gefällt :).
Liebe Grüße!
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Wunderbar geschrieben, gefällt mir total gut! Liebe Grüße, Sylvia
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Das freut mich sehr… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Gruselig…
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Danke schön!
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