Das Gnu dampft. Ein leichter Nebel steigt vom Körper auf, als hätte man ihn direkt aus einem heißen Ofen gezogen. Warum das Gnu dampft, kann sie sich nicht erklären. Allein die Tatsache, dass ein Gnu vor ihr auf dem Boden liegt, ist ziemlich überraschend. Eigentlich dürfte da kein Gnu liegen, denn Gnus leben im südlichen Afrika, und vom südlichen Afrika ist sie Tausende von Kilometern entfernt, also ist auch das Gnu Tausende von Kilometern vom südlichen Afrika entfernt und damit Tausende von Kilometern von seinem Zuhause. Diese unerträgliche Distanz macht sie traurig. Die gekrümmte Haltung des Gnus macht sie traurig. Die Art und Weise, wie die Hörner vom Kopf abstehen und Schatten werfen, macht sie traurig. Sie weiß nicht, ob die besten Tage noch vor ihr oder bereits hinter ihr liegen. Aber sie weiß, dass heute keiner dieser besten Tage ist. Weder für sie noch für das Gnu.
Es bewegt sich nicht von der Stelle, das Gnu, es wirkt trotz seiner Größe klein und kümmerlich und kraftlos. Immerhin lebt der dampfende Körper, denkt sie, und dann fragt sie sich, ob dieses Immerhin ein gutes oder ein ungutes Wort ist. Sie weiß es nicht, aber immerhin weiß sie, dass Immerhin ein Adverb ist, und immerhin weiß sie, dass das Gnu lebt, denn sie kann unter die dicke Haut sehen, erkennt das Herz, das rot und leuchtend pulsiert, ganz langsam, ein träges Erweitern und Zusammenziehen. Es passiert ihr selten, dass sie unter eine Haut sehen kann, eigentlich geschieht es hier und jetzt zum ersten Mal, doch sie ist nicht sonderlich überrascht.
Sie war schon vieles in ihrem Leben, und noch viel mehr wäre sie gerne gewesen. Einmal war sie Eiskunstläuferin, sie war es sogar eine ziemlich lange Zeit, doch diese Zeit ist weit entfernt, zwar nicht Tausende von Kilometern, aber viele Jahre. Sie trainierte hart, damals. Sie war auch tatsächlich gut, richtig gut, auch sehr ehrgeizig, denn ohne Ehrgeiz wird man nicht gut, nicht im Eiskunstlaufen. Einmal bereitete sie sich intensiv auf einen regionalen Wettbewerb vor, denn dort, vor den Augen ihrer Eltern, ihres Trainers und der anderen Mädchen wollte sie den dreifachen Axel zeigen. 1989 hatte Midori Ito den dreifachen Axel bei der Eiskunstlaufweltmeisterschaft gezeigt. 1991 hatte auch Tonya Harding den dreifachen Axel stehen können, doch wie Tonya Harding wollte sie nicht werden. Den dreifachen Axel, den wollte sie aber schaffen, nein, sie musste ihn schaffen. Im Training gelang er ihr ein einziges Mal. Beim großen Auftritt war sie hoch konzentriert, war überzeugt, dass sie den dreifachen Axel stehen würde, doch schon beim Absprung merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Nach zwei Umdrehungen traf sie bereits wieder auf das Eis, unvorbereitet und viel zu früh. Ihr Fuß knickte um und brach. Das Knacken war leise, doch es übertönte jedes Geräusch. Danach wurde alles still, sie sank auf das kalte Eis und blieb liegen, minutenlang, bis irgendwann jemand kam, ihren kleinen und kümmerlichen und kraftlosen Körper hochhob und vom Eis trug. Seither hatte sie nie mehr Schlittschuhe getragen. Rückblickend stellt sie sich vor, dass ihr Körper damals auf dem Eis gedampft hatte, doch womöglich ist dies eine übertriebene Dramatisierung, beeinflusst durch das Gnu, das noch immer vor ihr liegt.
Sie hat Angst vor Kühen und Hunden, vor Eseln und Dachsen, vor Füchsen und Ratten, nicht aber vor diesem Gnu. Sie tritt zum Tier heran, kniet sich hin und legt vorsichtig eine Hand auf den Körper. Das Gnu atmet schnaubend aus, woraufhin sie kurz zusammenzuckt, doch sie lässt sich davon nicht einschüchtern. Hallo Gnu, sagt sie. Hallo Gnu. Mehr fällt ihr nicht ein. Hallo Gnu. Dann legt sie sich neben das Tier, bettet ihren Kopf auf den buckligen Körper und hört zu, wie das Herz unter der Haut leise und langsam schlägt. Sie schließt die Augen und wartet, bis auch ihr eigener Atem immer langsamer und ruhiger wird. Hallo Gnu, wiederholt sie flüsternd. Hallo Gnu.
Als sie erwacht, zuckt sie zusammen und muss sich zunächst orientieren, sieht sich unsicher um. Nichts und niemand ist zu sehen. Das Gnu, es ist verschwunden, ist wohl wieder zu Hause, Tausende von Kilometern entfernt von hier. Nur ein leichter Nebel liegt noch in der Luft.
