Eigentlich müsste sie aufstehen, müsste sich bereit machen, müsste zur Arbeit gehen, müsste all das tun, was sie jeden Tag tut, doch heute ist nicht jeder Tag, sie mag nicht tun, was sie tun müsste, also bleibt sie liegen und denkt daran, was sie tun würde, wenn es ein Tag wie jeder andere wäre; sie würde sich die Augen reiben, würde in die Küche schlurfen und die Kaffeemaschine einschalten, würde ins Badezimmer gehen und in den Spiegel schauen, würde kaltes Wasser in ihr Gesicht schütten, würde zurück in die Küche taumeln, einen Kaffee aus der Maschine lassen und ihn trinken, würde dabei aus dem Fenster in die morgendliche Dunkelheit schauen und die sporadisch vorüberziehenden Scheinwerfer auf der nahen Straße beobachten, würde die leere Kaffeetasse ausspülen und wieder ins Badezimmer gehen, würde duschen und sich abtrocknen, würde sich im Schlafzimmer ankleiden und dabei an den Kleidern schnüffeln, um festzustellen, wie frisch sie duften, würde sich im großen Spiegel betrachten, würde nicht zufrieden sein und doch nichts ändern, sondern nur mit den Schultern zucken, würde dann das Haus verlassen und zur Bushaltestelle eilen, mit zügigen Schritten, denn sie wäre wie immer zu spät dran, und nur knapp würde sie den Bus erwischen und würde einsteigen, würde nach hinten gehen und sich hinsetzen, auf den gleichen Platz wie immer, in der dritthintersten Reihe auf der linken Seite, am Fenster, und während der Fahrt durch die Stadt würde sie aus dem Fenster blicken und unzählige Menschen sehen, die sie nicht kennt, fremde Menschen, die Stadt besteht fast ausschließlich aus fremden Menschen, und einige würden einen sympathischen Eindruck machen, andere würden ganz kalt und unfreundlich wirken, manche wären sehr gutaussehend, manche hingegen ziemlich unförmig und plump, einige würden rennen, andere fast wie Denkmäler an einer Stelle verharren, und dieser große Haufen aus fremden Menschen bildet die Gesellschaft, in der auch sie sich bewegt, zu der sie dazugehört, ohne sich zugehörig zu fühlen, und während der Busfahrt würde sie sich wie immer einsam fühlen, und wahrscheinlich würde sie Musik hören, und ganz egal, welches Lied aus ihren Kopfhörern dringen würde, es wäre passend, würde die Szene perfekt untermalen, denn sie legt Wert darauf, dass sie Musik hört, die zum Moment passt, darum wären es melancholische Songs, die sie im Bus begleiten würden, und sie würde in dieser Klangkulisse in eine Art Trance verfallen und beinahe ihre Haltestelle verpassen, würde im letzten Moment hastig aufspringen und gerade noch aussteigen können, würde draußen auf dem Gehsteig stehenbleiben und durchatmen, würde dann nach rechts gehen und noch eine Zigarette rauchen, würde vor dem großen Bürogebäude stehenbleiben und nach oben schauen, hinauf zur Etage, in welcher sich ihr Büro befindet, und es würde bereits Licht brennen dort oben, denn jemand ist immer vor ihr da, sie ist nie die Erste, und vielleicht ist das auch gut so, denn von der leeren Wohnung in ein leeres Büro zu kommen, wäre ihrer Stimmungslage wohl kaum sonderlich zuträglich, die Alleinsamkeit würde ihr noch stärker als üblich bewusst werden, doch heute stellt sich diese Frage gar nicht, denn sie bleibt ja liegen und mag nicht tun, was sie jeden Tag tut, mag nicht tun, was sie tun müsste, und nachdem sie sich noch einige Gedanken darüber gemacht hat, was sie tun würde, wenn es ein Tag wie jeder anderer wäre, denkt sie daran, dass sie im Büro anrufen und Bescheid geben muss, dass sie heute nicht zur Arbeit kommt, und sie greift nach ihrem Handy und zuckt sogleich zusammen, denn in diesem Moment klingelt es, im Display wird die Nummer des Büros angezeigt, was sie ziemlich irritiert, und nach kurzem Zögern nimmt sie ab, sagt vorsichtig ihren Namen und hört die aufgeregte Stimme ihrer Mitarbeiterin, die fragt, ob alles in Ordnung sei und ob es ihr gut gehe, und in diesem Moment, in genau diesem Moment, sucht sie eine ehrliche Antwort auf diese Frage, die ja eigentlich aus zwei Fragen besteht, sie fragt sich selbst, ob alles in Ordnung sei und ob es ihr gut gehe, und die Antwort kann nicht Ja lauten, bei beiden Fragen nicht, doch sie kann auch nicht Nein lauten, die Antwort liegt irgendwo dazwischen, wie fast alles irgendwo dazwischen liegt, zwischen den Polen, und in diesem Zwischenraum verharrt sie, ist nicht sicher, was sie sagen soll, und bald darauf, schon in einigen Sekunden, wird sie erfahren, dass es einen Unfall gegeben hat, die Mitarbeiterin wird erzählen, dass in der Stadt ein Kran umgestürzt ist und einen Bus getroffen hat, und sie wird erschrecken, ihr Herz wird rasend schnell schlagen, und sie wird den Computer einschalten und im Internet nach Meldungen zu diesem Unfall suchen, wird sie auch finden, wird ein Bild des Unfalls sehen, den Kran, den Bus, und sie wird die Stelle erkennen, an welcher der Kran auf den Bus gestürzt ist, wird sich daran erinnern, dass sie jeden Morgen dort vorbeifährt, und sie wird den Bus genau betrachten, wird sehen, dass der Kran den hinteren Teil des Busses getroffen hat, und bei dieser Feststellung wird ihr Herz kurz stehenbleiben, nur eine Sekunde lang, alles wird ins Wanken geraten, ihr wird schwindlig werden und sie müsste sich wieder hinlegen, doch noch ist es nicht soweit, noch überlegt sie, was sie auf die Frage antworten soll, ob alles in Ordnung sei und ob es ihr gut gehe, und sie sagt Ja, obwohl es nicht wirklich stimmt, doch eigentlich ist es die richtige Antwort, doch das wird sie erst in ein paar Sekunden erfahren.

So etwas Ähnliches haben gute Freunde vor sehr vielen Jahren mit einem Flugzeug erlebt. Wäre ihre Tochter nicht krank geworden, hätten sie in der Maschine gesessen, die abgestürzt ist.
Vielleicht gibt es doch so etwas wie Vorsehung oder Schicksal.
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Falls ich auf eine derartige Weise dem Tod von der Schippe springen könnte, würde ich mich wohl auch mit dem Zufall als Erklärung zufriedengeben… 😉
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen (und schön, dass deine Freunde damals nicht geflogen sind…)
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Was für ein Rhythmus! Toll erzählt!
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Das freut mich sehr! Vielen lieben Dank dir!
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Wieder einmal gut geschrieben.
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Vielen lieben Dank dir!
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