Als es endlich zu Ende geht, ist er erstaunt, dass es so lange gedauert hat, und meint damit sowohl das Sterben als auch das Leben. Er hat sich zuvor nur selten Gedanken über die Zeit gemacht, doch jetzt, an ihrem Ende, fragt er sich, was sie eigentlich bedeutet, welchen Wert sie hat, welches Gewicht. Könnte er die Zeit, seine Zeit, auf die Waage legen, würde die Nadel wohl im unteren Bereich der Skala verharren. Er ist froh, dass er keine Waage hat.
Es ist gut, dass er alleine ist, als es zu Ende geht; gut, dass dabei niemand an seiner Seite sitzen muss. Es ist schrecklich, dass er alleine ist, als es zu Ende geht; schrecklich, dass dabei niemand an seiner Seite sitzt. Er könnte einen Schuldigen suchen, doch er würde nur sich selbst finden, und von diesen ganzen Selbstfindungsbestrebungen hält er nichts. Am Ende, und dort ist er ja mittlerweile angekommen, spielt es sowieso keine Rolle mehr.
Seine Frau ist längst mit einem neuen Mann zusammen, einem Mann namens Vito, und er nimmt es ihr nicht übel. Er war wohl nie einer, mit dem man bis zum Ende des Lebens zusammenbleiben mochte. Vito ist anders. Vito ist ein freundlicher Bär. Vito hat einen dicken Bauch, wahrscheinlich von den vielen Spaghetti. Vielleicht hätte er ebenfalls mehr Spaghetti essen sollen. Aber er wäre wohl auch mit einem dicken Bauch kein freundlicher Bär geworden.
Einst las er, dass selbst ungläubige Menschen kurz vor dem Tod einen Zugang zu Gott finden würden. Er glaubte damals nicht, dass dies bei ihm geschehen würde. Jetzt hat er – endlich – Gewissheit, hat Recht behalten, da ist kein Gott und auch kein Teufel, doch er kann niemandem davon erzählen, und eine Genugtuung verspürt er nicht. Er zuckt mit den Schultern. Etwas anderes fällt ihm gerade nicht ein.
Sein Leben lang hat er lästige Fliegen erschlagen, ohne mit der Wimper zu zucken. In letzter Zeit jedoch ließ er sie gewähren, ließ sie nervös umherfliegen und beobachtete sie, wie sie ihre dürren Beine putzten oder über eine Fensterscheibe krabbelten. Als er kürzlich eine tote Fliege auf dem Fensterbrett entdeckte, legte eine kalte Hand ihre Finger um sein Herz, und beinahe traten ihm Tränen in die Augen. Er konnte es gerade noch verhindern.
Als es tatsächlich zu Ende geht, so richtig, als sich auch das Ende zu Ende neigt, ist er ein wenig irritiert, dass er es spürt, es registriert, es zu erkennen und einzuschätzen vermag. Sein letzter Gedanke ist, dass er froh ist, dass es Vito gibt, diesen freundlichen Bären mit seinem dicken Bauch, der bei seiner Frau ist und bei ihr bleiben wird, bis zu ihrem Ende. Dieser Trost lässt ihn lächeln. Dann ist das Ende zu Ende. Endlich.

Und wie wissen wir, wann diese finale Moment gekommen ist, um sich dann solche Gedanken zu machen? Oder machen wir uns irgendwann auf einmal diese Gedanken und dann wissen wir: Jetzt ist es wohl soweit.
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In jenem Moment, in welchem ich diese Fragen beantworten könnte, würde ich diese Fragen nicht mehr beantworten können 😉
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Welche Gedankengänge wir wohl haben werden wenn das Ende naht…
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Wir werden es (ziemlich spät) herausfinden… Vielen Dank dir fürs Lesen!
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Mono no ware … am Ende.
Sehr lesenswerter Text.
Herzliche Grüße vom Finbar
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Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Schreibfreund… Herzliche Grüsse zurück!
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