Draußen vor dem Fenster klopft ein Specht. Sie kann ihn hören, und sie kann ihn sehen. Immer wieder zuckt sein Kopf, immer wieder hämmert er seinen Schnabel in die Baumrinde, wie von Sinnen. Es ist ein fürchterliches Bild. Sie würde wohl allein schon bei der Vorstellung, mit ihrem Schädel wiederholt gegen einen Baumstamm klopfen zu müssen, schreckliche Kopfschmerzen bekommen, doch sie kann keine schrecklichen Kopfschmerzen mehr bekommen, denn sie hat bereits schreckliche Kopfschmerzen, obwohl sie sich in keiner Weise wie ein Specht verhalten hat. Die Kopfschmerzen, sie haben ihren Ursprung im Primitivo. Sie hat viel getrunken, sehr viel, sie hat allein getrunken, sehr allein, und sie hat erst mit dem Trinken aufgehört, nachdem sie auf der Couch in einen traumlosen Schlaf getaumelt war.
Jetzt dröhnt es in ihrem Kopf, und sie möchte dagegen anschreien, doch sie mag nicht schreien, sie hat keine Kraft und sie befürchtet, dass das Dröhnen dadurch nur noch schlimmer werden würde. Wenn sie denn könnte, wüsste sie zumindest, was sie schreien würde. Du dumme Kuh!, würde sie brüllen. Du verdammter Trottel! Du bist absolut hoffnungslos! Du bist eine Verliererin! Sie würde wohl noch andere Begriffe in den Mund nehmen, doch wahrscheinlich würden sie sich irgendwann zu einem Brei vermengen, einer pampigen Masse aus Silben, die sich kaum mehr erkennen ließen.
Sie schließt die Augen, was jedoch keine gute Idee ist, denn mit geschlossenen Augen kann sich ihr Blick nirgends festhalten, was dazu führt, dass sie ins Wanken gerät und seitlich auf die Couch kippt. Einen Moment lang wird alles schwarz, und in jenem Moment ist Schwarz keine gute Farbe. Ist Schwarz überhaupt eine Farbe? Oder nur eine Schattierung? Sie hasst solche Fragen. Ich hasse solche Fragen!, möchte sie brüllen. Überhaupt all die Fragen! Die verdammten Fragen! Und niemand, absolut niemand hat gescheite Antworten! Aber sie brüllt nicht, denn eben, das Dröhnen, es ist auch so schon ohrenbetäubend.
Sie richtet sich wieder auf und blinzelt in das viel zu helle Licht. Der Specht hämmert noch immer, doch jetzt hockt er nicht mehr draußen am Baum, sondern klammert sich an ihren Kopf. Sie spürt seinen spitzen Schnabel, der auf ihren Schädel prallt, immer wieder, immer und immer wieder. Jedes Mal hat sie das Gefühl, dass die Schädeldecke aufreißt und der Druck aus ihrem Kopf entweicht, doch das geschieht nicht, der Druck bleibt drin, wird immer grösser, und der Specht hämmert unaufhörlich weiter. Du Arschloch!, würde sie gerne schreien und ist sich nicht sicher, ob sie den Specht oder sich selbst meinen würde, aber sie schreit nicht, denn eben, das Dröhnen.
Sie steht auf, geht in die Küche, füllt ein Glas mit Wasser und kehrt zurück ins Wohnzimmer, setzt sich wieder auf die Couch, trinkt das Glas leer und fragt sich, ob sie nochmals in die Küche gehen soll, um es erneut aufzufüllen, lässt es aber bleiben, der Weg bis zur Küche ist viel zu weit, um ihn gleich nochmals zu gehen. Sie stellt das leere Glas irgendwo ab. Der Specht, er ist nun nicht mehr außen am Schädel, sondern in ihrem Kopf drin, klopft gegen alles, was ihm vor den Schnabel kommt, und mittlerweile ist der lästige Vogel nicht mehr alleine. Da sind weitere Spechte, immer mehr, außerdem Bauarbeiter mit Rüttelplatten und Presslufthämmern, ebenso wirre Musikanten mit riesigen Pauken und tollwütig brüllendes Großvieh. Was soll das?, möchte sie schreien. Warum? Warum nur? Doch sie schreit nicht, denn eben, das Dröhnen. Und außerdem kennt sie die Antwort auf das Warum und will sie nicht hören. Sie steht auf, blickt aus dem Fenster, hinüber zum Baum. Der Specht ist nicht zu sehen. Doch irgendwo muss er sein. Sie kann ihn hören. Wie er klopft und hämmert. Und klopft. Und hämmert. Und klopft. Und hämmert.

Wenn bei allen der Alkohol solche ausgeprägten Folgen hätte, dürfte es (eigentlich) gar keine Alkoholiker geben. – Wahrscheinlich lässt der Specht im Laufe der Zeit mit seiner Klopferei nach.
Mit Gruß von
Clara
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Eigentlich dürfte/sollte/müsste es sowieso keine Alkoholiker geben. Aber eben…
Vielen Dank dir fürs Lesen und herzliche Grüsse zurück…
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Ich mag Spechte. Ich bewundere sie sogar. Beobachte vor allem Buntspechte, wenn sie hämmern wie von dir beschrieben. Aber immer nur an Bäumen, nie an Köpfen *lächel* Das Lachen der Grünspechte beim Fliegen liebe ich sogar …
Alkoholķater und Migräne müssen schier unerträglich sein!
Herzliche Grüße vom Finbar
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Ich mag Spechte auch, höre ihr Klopfen sehr gern… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück, lieber Finbar..
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