Ihre Mutter hätte das Richtige zu sagen gewusst. Sie hatte stets die passenden Worte gefunden, wenn Anita sich fürchtete oder traurig war, sogar damals, als Lulu, ihre Katze, von einem Auto überfahren worden war. Anita überlegt, was ihre Mutter in diesem Moment sagen würde, doch ihr fällt nichts ein, keine klugen Sätze, nicht einmal ein adäquates Wort.
Es war unüblich, dass man am Konzerthaus zum Vorspielen eingeladen wurde. Normalerweise wurden Vakanzen relativ heimlich besetzt, mit Künstlern, die bekannt oder gut vernetzt waren. Als ein Bekannter sie darauf hingewiesen hatte, dass ein Konzertpianist gesucht wurde, war Anita überrascht gewesen. Sie solle sich doch zum Vorspielen anmelden, hatte er gesagt, doch sie hatte lediglich mit den Schultern gezuckt. Erst nachdem ihre beste Freundin sie immer wieder zu überreden versucht hatte, gab Anita widerwillig nach. Zwar war sie überzeugt, nicht gut genug zu sein, und ist noch immer unverändert dieser Meinung. Aber immerhin nimmt sie teil.
Während sie mit der Straßenbahn zum Konzerthaus fährt, spielt sie den langsamen Mittelsatz des zweiten Klavierkonzerts von Rachmaninoff auf ihren Knien. Zwei Mal greift sie daneben, und im dumpfen Gemurmel der wenigen Passagiere hören sich die Fehler seltsam grob und dumm an. Sie spürt, wie der Schweiß durch ihre Poren dringt. Anita sieht sich vorsichtig um, doch offenbar sind ihre Fehlgriffe niemandem aufgefallen.
Ein Mann geht mit schweren Schritten durch die Straßenbahn, zunächst in Fahrtrichtung, dann in der entgegengesetzten Richtung, immer wieder. Er murmelt Unverständliches, seine Augen sind weit aufgerissen, sein Blick ist wirr und irr, sein Hemd ist schmutzig. Anita beobachtet den Mann, nur jedes Mal, wenn er an ihr vorübergeht, starrt sie angestrengt aus dem Fenster. Je länger der Mann durch den Straßenbahnwagen stapft, desto mehr wächst in Anita ein gewisses Unbehagen. Natürlich weiß sie, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass genau dieser Mann ein Amokläufer oder dergleichen ist; nicht jeder merkwürdige Mensch ist psychisch gestört, und nicht jeder psychisch gestörte Mensch ist gefährlich. Doch während der Mann weiterhin wie ein Panther im Gehege durch den Wagen der Straßenbahn irrt, reift in Anita die Überzeugung, dass er bald ausrasten und schreckliche Dinge tun wird.
Manchmal, wenn sie auf reflektierende Flächen blickt, glaubt sie, neben ihrem eigenen Antlitz auch das Gesicht ihrer Mutter zu erkennen, nur kurz, nur schemenhaft. Sie blickt auf das Fenster der Straßenbahn, sucht nach ihrem Spiegelbild, doch es ist zu hell draußen, da ist kein Gesicht zu sehen, nur die Welt hinter dem Glas. Nachdem der merkwürdige Mann ein weiteres Mal an ihr vorübergegangen ist, steht Anita abrupt auf und steigt bei der nächsten Haltestelle aus, obwohl die Straßenbahn noch mehrere Stationen vom Konzerthaus entfernt ist.
Sie steht an der Haltestelle, sieht sich unsicher um und versucht, sich zu orientieren. Sie weiß ungefähr, wo sie sich befindet und in welche Richtung sie gehen muss, um zum Konzerthaus zu gelangen. Trotzdem zögert sie, spielt mit dem Gedanken, auf die nächste Straßenbahn zu warten. Neben einer Anzeigetafel hängt eine Uhr. Sie ist spät dran, muss sich beeilen. Anita drückt ihre Handtasche eng an ihren Körper und geht los.
Während sie der Straße entlang hastet, haftet sie ihren Blick jeweils an das kleine Stück Asphalt vor ihren Füssen. Sie sieht sich nicht um, blickt nicht zurück, doch sie ist überzeugt, dass der Mann aus der Straßenbahn ihr folgt. Sie geht schneller, muss immer wieder entgegenkommenden Menschen ausweichen und gerät einige Male ins Stolpern. Erst als sie die breite Treppe vor dem Konzerthaus erblickt, verlangsamt sie, steigt die Stufen hinauf zum Eingang, bleibt schließlich stehen und sieht sich um. Der Mann aus der Straßenbahn ist nicht da. Auch ihre Mutter ist nicht da. Anita ist allein.
Langsam lässt sie ihren Blick über den kleinen Platz vor dem Konzerthaus wandern, betrachtet die Fassaden der alten Häuser und die Passanten, die stoisch und seltsam unberührt ihrer Wege gehen, als wären sie seelenlose Gestalten, alte Geister. Eine nahe Kirchenglocke schlägt zur vollen Stunde, es ist vier Uhr nachmittags. Anita müsste in diesem Moment mit dem Vorspielen beginnen. Sie wendet sich der mächtigen Eingangstür des Konzerthauses zu, öffnet sie aber nicht. Sie starrt lediglich auf die eisernen Beschläge, vor allem auf den mächtigen Türklopfer. Eine Raubkatze hält den Klopfring in ihrem Maul. Es ist kein Löwe. Vielleicht ein Tiger, oder ein Panther, Anita ist sich nicht sicher. Natürlich müsste sie nicht klopfen. Sie müsste einfach eintreten und in den Konzertsaal eilen. Doch sie bleibt vor der Eingangstür stehen, reglos und mit weit aufgerissenen Augen. Anita überlegt, was ihre Mutter in diesem Moment sagen würde, doch ihr fällt nichts ein, keine klugen Sätze, nicht einmal ein adäquates Wort.

Beim Vorspielen versuchen Pianisten eher mit Virtuosität als mit Emotionen zu punkten. Daher ist der langsame 2. Satz dieses Konzertes eine etwas erstaunliche Wahl. Und wenn sie da schon auf ihren Knien daneben greift… die arme! Aber wie soll sie das auch wissen ohne den Rat ihrer Mutter 😉
Wie auch immer, ein wunderbar tragisch schöner Text!
LikeGefällt 1 Person
Wie auch immer und sowieso; vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken!
LikeLike
Wirklich mitreißend geschrieben. Danke.
LikeGefällt 1 Person
Vielen lieben Dank, das freut mich sehr!
LikeLike
Lieber Disputnik, manche glauben ja an Wiedergeburt. Sollte das der Fall sein und ich noch einmal wiederkomme, dann möchte ich wenigstens 50 % von deinem Erzähltalent in die Wiege gelegt bekommen.
Aber: Sind wir hier bei „Wünsch dir was!“ oder auf einem Ponyhof? 🙂
Da bin ich aber froh, dass ich meine „Klavierkarriere“, die so gar nicht nach Karriere aussah, bald abgebrochen habe. Ich mache später dann was mit deinem Erzähltalent 🙂
LikeLike
Ich glaube ja nicht an Wiedergeburt… Falls es also nicht anderweitig gebraucht wird, gebe ich mein Erzähltalent, wenn man es denn so nennen will, nach meinem Ableben gern an dich weiter. Mach was Schönes damit. Und falls ich wider Erwarten doch nochmals zu leben hab, würd ich im Gegenzug gern jegliche Klavierkompetenz übernehmen, die fehlt mir nämlich gegenwärtig 😉
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
LikeLike
Rein mathematisch gesehen trete ich vor dir ab und Klavierkompetenz habe ich keine, aber der Rest der Familie hat dafür um so mehr davon.
LikeLike
Ich würde auch kleinste musikalische Fähigkeiten und Fertigkeiten dankend annehmen 😉
LikeLike
Ich konnte mal Blockflöte blasen – und rhythmisch klatschen kann ich gut.
LikeGefällt 1 Person
Irgendwie finde ich Anita unselbstständig. Wenn sie jedes Mal die Meinung der Mutter oder von sonst wen braucht.
LikeLike
Unsicher auf jeden Fall, ja… Vielen Dank dir fürs Lesen…
LikeGefällt 1 Person
aber das erklärt sich wohl dadurch, dass ihre mutter offenbar nicht mehr lebt – jedenfalls lese ich das so heraus. ich finde das sehr berührend. und – wer wäre nicht in aufruhr vor solch einem wichtigen „vorspiel“ (oder vorstellungstermin, oder anderen sehr wichtigen terminen) und würde sich jemanden an seiner seite wünschen.
LikeGefällt 2 Personen
Da hast du richtig gelesen, die Mutter scheint tot zu sein.
Es zog sich nur durch die ganze Story, was andere jetzt wohl sagen würden.
Ja es stimmt, aufgeregt sein ist in solchen Situationen normal.
Mir persönlich kam sie so unbeholfen vor. Jeder empfindet ja anders beim Lesen.
LikeGefällt 2 Personen
Freut mich sehr, dass du’s berührend findest; vielen Dank!
LikeLike
du hast ein talent, unheimlich dicht und nachfühlbar zu schreiben. so auch hier wieder. chapeau!
LikeGefällt 2 Personen
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, fürs Chapeau und deine Worte!
LikeGefällt 1 Person
Lampenfieber vor einem wichtigen Vorspiel zu haben, das ist vollkommen richtig und normal,
es sollte sich daraus aber möglichst keine Angst oder gar Paranoia ergeben, das könnte sich als fatal nicht nur für’s Vorspiel erweisen…
Liebe Grüße vom Finbar
LikeGefällt 2 Personen
Ich glaub, in diesem Fall ist es wohl gar nicht zum Vorspielen gekommen. Und ja, Lampenfieber ist normal, auch ein wenig Angst, doch wenn die Angst zu gross wird, stellt sie sich oftmals vielem in den Weg.
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und herzliche Grüsse zurück!
LikeGefällt 2 Personen
Rach2 ist übrigens eines der zauberschönsten Klavierkonzerte aller Zeiten,
aber das wirst du ja längst wissen, sonst hättest du sie es ja nicht in der Straba „üben“ lassen…
Save your day, Finbar
LikeGefällt 2 Personen
Ich bin in klassischer Musik kein bisschen bewandert, aber umso schöner, dass ich ihr ein in deinen Ohren feines Stück auf den Weg gab…
LikeGefällt 1 Person
Von woher hast dann dieses Stück zugeflüstert bekommen?!
LikeLike
Ich habe bei Google eingegeben: Welches klassische Musikstück würde Finbar gefallen? (Vielleicht suchte ich auch einfach nach einem Pianokonzert von Rachmaninoff…)
LikeLike
*lächel*
(Du bist mir einer!! *gg* )
LikeLike
*zustimmend nick*, ja, ein zauberstück, dieses klavierkonzert!
LikeGefällt 2 Personen
Lächel… 🌺
LikeGefällt 1 Person