Doppelt drehen. Doppelt drehen ist wichtig. Doppelt drehen macht sicher, macht sicherer. Der Metallbolzen ragt dann weiter in den Türrahmen hinein. Eigentlich weiß er, dass auch dann, wenn er nur einmal drehen würde, ziemlich sicher niemand in seine Wohnung eindringen würde. Wahrscheinlich nicht einmal dann, wenn er die Tür unverschlossen ließe. Trotzdem, sicher ist sicher, und sicherer ist sicherer. Doppelt drehen.
Er duscht lange, seift sich ein und spült den Schaum weg, trocknet seinen Körper und trägt eine pflegende Lotion auf. Er zieht die Haut auseinander, schiebt sie wieder zusammen, mustert die Falten, die entstehen und sich bewegen. Er gibt Rasierschaum auf sein Gesicht, rasiert sich behutsam, lässt kein Haar aus. Er blickt in den Spiegel, betrachtet den Mann gegenüber, blinzelt einige Male. Die Lippen zucken.
In der Küche raucht er eine Zigarette und trinkt Weißwein. Der Frotteemantel, den er trägt, ist alt, der Stoff ist von unzähligen Waschgängen dünn geworden. Während er die Rauchschwaden beobachtet, denkt er daran, wie es wäre, draußen zu sein, in einem Park oder in der Fußgängerzone einer Großstadt. Mauern sind Schutz und Gefängnis zugleich, sperren ein und sperren aus. Er trinkt das Weinglas leer und geht ins Schlafzimmer. Unterwegs kommt er an der Wohnungstür vorbei und prüft erneut, ob sie verschlossen ist. Doppelt drehen. Sicher ist sicher.
Das Kleid für heute liegt bereits auf dem Bett, es ist weiß, mit aufgenähten Perlen. Er findet nicht, dass es ihm steht, außerdem macht es ihn alt. Trotzdem zieht er es gern an. Er mag, wie der dicke Stoff schwer auf seiner Haut liegt. Er lässt seine Hände über seinen Körper gleiten, blickt hinab zum Saum des Kleides. Als er bemerkt, dass er es ein weiteres Mal versäumt hat, die Strumpfhose zuerst anzuziehen, schüttelt er nur den Kopf und grinst kurz. Er zieht den Rock nach oben, rollt den dünnen Stoff der Strumpfhose über die Beine.
Ein weiteres Mal prüft er den Drehknopf an der Wohnungstür. Doppelt drehen. Sicher ist sicher. Dann geht er zurück ins Badezimmer, öffnet den Spiegelschrank, nimmt die Make-up-Utensilien heraus. Sorgsam trägt er Lippenstift auf, dann Lidschatten, dann Puder auf die Wangen. Schließlich tritt er einen Schritt zurück, blickt in den Spiegel, betrachtet die Frau gegenüber, blinzelt einige Male. Die Lippen zucken. Dann lächelt sie.

Sehr geschickt gemacht. Leise und behutsam verwandelte er sich …
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Vielen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte! Herzliche Grüsse
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Beim ersten Wort ‚Kleid‘ dachte ich du hättest dich verschrieben. Doch dann kam die Verwandlung. ☺
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Schön, dass du die Verwandlung mitverfolgt hast… Vielen Dank dir fürs Lesen!
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Immer wieder gerne.
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Gelobt habe ich dich doch hoffentlich schon oft. Aber diesen Artikel müsste ich eigentlich bei uns im Haus an die Haustür hängen. Hier schließen die Leute nicht nur doppelt ab, sondern dreifach und vierfach, auch wenn sie in der Wohnung sind. Die haben alle einen derartigen Sicherheits Knall, dass ich annehmen muss, die lagern Goldbarren in ihrer Wohnung. Liebe Grüße zu dir
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Wer weiss, vielleicht lagern sie ja tatsächlich Goldbarren in ihren Wohnungen, oder Piratenschätze oder dergleichen. Und manche sperren vielleicht nicht Geld oder Güter ein, sondern sich selbst… Und ja, lobende Worte kamen schon oft von dir, zu meiner grossen Freude! Herzlichsten Dank dafür, auch an dieser Stelle… Liebe Grüsse zurück!
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Ich vergesse grundsätzlich, den Riegel vorzulegen, wenn ich in der Wohnung bin. Auch für die Nacht vergesse ich es meist. Mein Vorbesitzer hat eine sicherungstür einbauen lassen oder besser Sicherheitstür, da bräuchte die Feuerwehr bestimmt 10 Minuten, um mich in Lebensgefahr hier aus der Wohnung holen zu können. Ich finde sie zum kotzen. Dieses super Schloss habe ich bisher nur benutzt, wenn ich in den Urlaub gefahren bin. Und als ich dann wieder zurück kam, habe ich es kaum aufschließen können. Ich bin nicht geeignet für so eine große Sicherheit
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Wenn Sicherheit einengt und das Atmen erschwert, ist sie wohl meistens zu stark ausgeprägt. Trotzdem kann es manchmal durchaus angenehm sein, sich in ihr zu wiegen. Ich hoffe, deine wunderbare Sicherheitstür sperrt dich nicht irgendwann ein oder aus…
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Ich muss dich für deine Blicke loben. Zu selten schaue ich mir einen deiner Beiträge an, um dann wieder festzustellen, wie angenehm du dem Leser ein Bild malst. Die Thematik rückt deswegen nicht in den Hintergrund, sondern wird nur sehr ansehnlich eingepackt.
Liebe Grüße,
Ben
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Oh, vielen lieben Dank, das wunderbare Lob, der ganze Kommentar, freut mich sehr! Herzlichen Dank fürs Lesen und deine Worte, und liebe Grüsse zurück
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