Man muss nur wollen, sagt eine Person, die Sofia kennt, also nur rudimentär kennt, eine Peripherbekanntschaft sozusagen. Sofia erinnert sich nur an guten Tagen an den Vornamen dieser Person, und heute will ihr der Vorname nicht einfallen. Sie spielt das Alphabet durch, um so vielleicht herauszufinden, mit welchem Buchstaben der Vorname beginnt, aber sie gelangt bis zu X und Y und Z, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu entwickeln. Man muss nur wollen, dann schafft man es auch, sagt diese Person, und Sofia will ja diesen Vornamen herausfinden, doch sie schafft es nicht. Nicht nur deshalb zweifelt sie an der Aussage dieser Person.
Man muss nur wollen, sagt diese Person und setzt dabei ein Gesicht auf, wie es Leute tragen, die sagen, dass man nur wollen müsse. Dieses Gesicht, es oszilliert zwischen inszenierter Besorgtheit und aufrichtiger Arroganz, und wenn dies dem Versuch geschuldet ist, möglichst ernsthaft und glaubwürdig und kompetent und interessiert zu wirken, muss der Versuch als gescheitert betrachtet werden. Sofia fragt sich, ob sich Leute, die sagen, dass man nur wollen müsse, überhaupt für andere Menschen interessieren, doch dann lässt sie diese Selbstfrage unbeantwortet in einem imaginären Raum stehen, denn eigentlich will sie nicht pauschalisieren, will sich von Vorurteilen fernhalten, und man muss ja nur wollen, dann schafft man es auch.
Man muss nur wollen, sagt jene Person, deren Vorname Sofia noch immer nicht einfällt, und Sofia denkt an den Grund, warum sie Sofia heißt, denkt daran, dass ihre Eltern sie wohl in der bulgarischen Hauptstadt gezeugt haben, und Sofia ist ziemlich froh, dass ihre Eltern damals nicht nach Holland gereist sind, oder nach Polen, oder nach Burkina Faso. Sie will nicht Ouagadougou heißen. Sie will ziemlich viele Dinge nicht. Und vieles will sie gar nicht wollen müssen und auch nicht schaffen können.
Man muss nur wollen, dann schafft man es auch, sagt diese Person, und Sofia ist ein wenig überrascht, dass jene Person dies sagt, denn danach gefragt hat sie nicht. Das Gespräch tummelte sich eigentlich auf dem weiten Feld der Banalitäten, irgendwo zwischen der Großwetterlage, der Sinnhaftigkeit von Plastikverpackungen und der Relativität der Zeit. Irgendwann ließ Sofia wohl eine unbedachte Bemerkung über ihre Zukunft fallen, und jene Person stürzte sich auf diese Bemerkung wie ein unbeholfenes Raubtier auf seine Beute. Sie ist eine Lebensberaterin, diese Person, obwohl sie sich anders nennt, irgendetwas mit Coaching und Life, vielleicht auch mit Balance, wahrscheinlich alles zusammen und noch einiges mehr.
Man muss nur wollen, sagt diese Person, und Sofia hatte sich einst überlegt, diese Person zu besuchen, also die von ihr angebotene Lebensberatung in Anspruch zu nehmen, denn ein guter Ratschlag hätte vielleicht eine gewisse Dynamik angeregt, hätte Sofias Weg durch den damals unerträglich zähen Sumpf des Lebens ein wenig einfacher gemacht, doch heute ist sie froh, dass sie auf einen derartigen Termin verzichtet hatte, denn um zu erfahren, dass man nur wollen muss, um es zu schaffen, hätte sie auch einfach auf die Lektüre von Zuckersäckchen oder Teebeuteletiketten zurückgreifen können. Es ist gut, dass sie ihren Tee mit Zucker trinkt.
Man muss nur wollen, dann schafft man es auch, sagt diese Person, und Sofia will mit den Schultern zucken und schafft es tatsächlich. Während sie sich vom erfolgreichen Schulterzucken erholt, ahnt Sofia bereits, was nun folgen wird. Die Ahnung bestätigt sich. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, sagt diese Person, und das Gesicht dieser Person verändert sich dabei nicht, denn das Gesicht, das Leute tragen, die sagen, dass man nur wollen müsse, ist offensichtlich das gleiche Gesicht wie jenes, das Leute tragen, die behaupten, dass Wille und Weg sich stets am gleichen Ort befänden. Sofia will etwas erwidern, doch sie schafft es nicht, die Worte finden den Weg nicht, also nickt sie einfach. Kopfnickende Lügen sind häufig einfacher als die anderen.
Man muss nur wollen, sagt diese Person, wo ein Wille ist, sagt diese Person, und dann sagt Sofia, dass sie sich allmählich auf den Weg machen wolle, sie müsse noch etwas erledigen. Sie verabschiedet sich von der Person, von dieser Peripherbekanntschaft, und geht absichtlich ziemlich schnell, um den Eindruck von Eile zu hinterlassen. Sie ist bereits um eine Ecke gebogen, als ihr der Vorname dieser Person einfällt. Natürlich, denkt Sofia, wie habe ich diesen Vornamen nur vergessen können? Diese Frage, sie braucht keine Antwort. Auf sehr viele Fragen muss man keine Antwort finden, findet Sofia. Man muss es nicht einmal wollen.

Anstrengend oder? Immer muss man etwas wollen sollen …
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Ja… Hin und wieder sollte man es auch lassen können…
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Das Problem scheint mir eher ein adverbiales zu sein, nämlich von der Ausschließlichkeit des „nur“ in der textzentralen Phrase herzurühren. Natürlich reicht der bloße Wille nicht unbedingt aus, um etwas zu schaffen, aber wie sollte o h n e irgendeinen Willen andererseits überhaupt irgend etwas zu schaffen sein?
Näheres dazu möge man, sofern der entsprechende Wille vorhanden sein sollte, bei Schopenhauer nachlesen …
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Stimmt, das «nur» macht es der Phrase – und den Adressaten derselben – nicht unbedingt einfacher.
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte.
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Ach ja…diese Phrasenklopper überall…eingeklemmt zwischen Oberflächlichkeiten und Banalitäten, lohnt es sich immer, unbedingt schnell weg zu müssen. Toilette ist DER Burner bei ungeplanten Fluchten- weg von sowas wie Coaching ohne Knautschkomfortkannwegzone. Ich sage: Lieber Coach oder Couch? Keine Frage! Wer die Wahl hat, vermeidet die Qual.Meine Milch kocht über – eignet sich auch bestens zur allgemeinen Flucht in besondere Beliebigkeit… oder: danke für die Leere, ich muss jetzt aber unbedingt mindestens ein Gedicht essen, denn mein Geist knurrt…ooooder:
Ja. Wir schaffen das! Weiter so…und in diesem Sinn: Guten Weg und Willen bei bester Gesundheit, ich muss dann nämlich mal. Immer dieses Müssen, Sie wissen ja…ich muss noch was schaffen heute, hab keine Zeit mehr.
Das wäre nach dem unhöflich knurrenden Geist eine elegante Variante, sich Phrasendreschern und besonders den Wohlmeinenden schnell zu entziehen.
Eine kleine Phrasensammlung anzulegen kann dabei auch nicht schaden.
Sehr gerne goutiert, lieber Disputnik.
Liebe Grüße
Amélie
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Wer beim Möglichstschnellwegmüssen eine öffentliche Toilette als Ziel festlegt, findet dort an den Wänden nicht selten eine andere Art der Phrasen vor, die zwar auch nicht mehr Lebensratschlagwert in sich tragen, aber zumindest ab und zu ein Grinsen entlocken.
Vielen lieben Dank fürs Lesen (also fürs Goutieren, dafür ein Spezialdank) und für deine Worte! Herzliche Grüsse zurück…
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