Sie wundert sich darüber, dass es in Filmen manchmal so wirkt, als würden sich die Räder eines Autos rückwärtsbewegen, obwohl das Auto vorwärtsfährt. Sie findet dieses Phänomen äußerst merkwürdig, rätselhaft, geradezu faszinierend. Und weil sie nicht genau weiß, woran es liegt, und sich auch nicht sonderlich stark darum bemüht, es herauszufinden, bewahren sich die rückwärtsdrehenden Räder eine geheimnisvolle Qualität und vielleicht sogar Magie.
Längst nicht alles, was sie nicht weiß, besitzt jene geheimnisvolle Qualität und vielleicht sogar Magie. Sie hat kaum eine Ahnung, wie ein Verbrennungsmotor funktioniert, kennt neben Hopfen und Malz keine Einzelheiten des Bierbrauprozesses und kann sich nicht wirklich erklären, wie ein Duschgel mit Lavendelduft intensiver nach Lavendel duften kann als ein Lavendelpflanze. Doch das spielt alles keine Rolle, denn in Bezug auf Autos interessieren sie höchstens die rückwärtsdrehenden Räder, mit Bier verbindet sie keinerlei angenehme Gefühle, und Lavendel mag sie zwar gerne riechen, aber kurz nach den Nasenflügeln findet ihr Interesse an dieser Pflanze ein abruptes Ende. Die meisten Dinge, die sie nicht weiß, sind Lücken, die nicht schmerzen. Einige Dinge, die sie nicht weiß, sind keine Lücken, sondern nehmen Raum in ihr ein, einen ganz speziellen Raum.
Irgendwann liest sie zufällig, dass jede Filmsekunde aus 24 oder 25 einzelnen Bildern besteht, auf denen sich die Position von Objekten und Menschen ganz leicht verändert, und dass durch die Aneinanderreihung dieser Bilder im Gehirn die Illusion einer Bewegung entsteht, und dass es in der Zeit zwischen zwei Bildern sein kann, dass sich ein Rad nicht ganz komplett um die Achse dreht und die Position einer Speiche sich quasi gegen hinten verändert, weshalb es wirkt, als handle es sich um eine Rückwärtsbewegung, was in der Folge dazu führt, dass der Bildablauf im Film scheinbar ebenfalls eine Rückwärtsbewegung zeigt oder vom Gehirn als solche interpretiert wird.
Nun hat sie etwas gelernt, und eigentlich ist das Lernen eine erfreuliche Entwicklung. Aber zugleich hat sie etwas verloren, ihr ist etwas Wertvolles abhandengekommen. Das neue Wissen, es hat sich in ein kleines Zimmer in ihrem Kopf gedrängt, doch in jenem Zimmer befand sich zuvor eine geheimnisvolle Qualität und vielleicht sogar Magie, lag gemütlich auf einem großzügig bemessenen Bett mit hochwertiger Bettwäsche, nahm beim Eindringen des Wissens aber hastig Reißaus und flüchtete hinaus ins Freie, wo ihr die Kälte der Realität den Atem raubte, bis sie sich auflöste oder vielleicht von einem Auto überfahren wurde, man weiß es nicht.
Sie möchte die Erklärung für die vermeintliche Rückwärtsbewegung der Räder wieder verlernen, möchte das Phänomen wieder merkwürdig, rätselhaft und faszinierend werden lassen, sehnt sich danach, sich darüber wundern zu können. Doch fortan füllen sich Bildschirme und Leinwände mit vorwärtsfahrenden Autos mit rückwärtsdrehenden Rädern, ohne dass sie darüber staunt oder verblüfft ist. Sie fahren über Autobahnen und Landstraßen, diese vorwärtsfahrenden Autos mit ihren rückwärtsdrehenden Rädern, fahren durch Städte und Dörfer, und manchmal kreuzen kleine wunderliche Wesen ihren Weg, doch die vorwärtsfahrenden Autos mit den rückwärtsdrehenden Rädern halten nicht an, sie bremsen nicht einmal ab, sondern fahren unbeirrt weiter. Sie schaut ihnen nach, den Autos, und sie weiß nicht, wie die Verbrennungsmotoren unter den Motorhauben funktionieren, doch sie ist überzeugt, dass sie irgendwann einen Schaden erleiden werden. Und in dieser Erkenntnis liegt zwar keine Magie, aber immerhin ein kleiner Trost.

Die Webersche „Entzauberung der Welt“ scheint mir hier – ähnlich den rückwärtsdrehenden Rädern – eine Art fiktionalen Widerschein gefunden zu haben. Erstaunlich eigentlich, daß auch der postmoderne Mensch (ich gehe der Einfachheit halber mal davon aus, daß es sich bei der Person im vorliegenden Text um einenn solchen handelt) noch nach diesem vormodernen Zauber verlangt, oder?
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Im Sehnen nach einer Art von Zauber liegt wohl eine gewisse Zeitlosigkeit.
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte.
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