Jaja, wahrscheinlich war ich ein kleines bisschen verliebt in die Frau Elmer, denn die Frau Elmer kannte alle Bücher in der Bibliothek, wirklich alle, denn über jedes einzelne Buch, das ich auslieh, wusste sie bestens Bescheid, wusste so gut Bescheid, wie man nur Bescheid wissen kann, wenn man ein Buch auch tatsächlich gelesen hat, und eben, diese Frau Elmer wusste Bescheid, hatte Warnungen parat, wenn es vielleicht gefährlich werden könnte, wies mich auf besonders amüsante Verstrickungen hin oder schenkte mir ein vielsagendes, geradezu verschwörerisches Grinsen, obwohl ich nie zu erkennen vermochte, welche Art von Verschwörung sich hinter diesem Grinsen verbarg, und eigentlich hätte ich damals – ich war wohl etwa elf oder zwölf Jahre alt – kaum erklären können, was eine Verschwörung überhaupt ist, doch in Erinnerungen darf es hin und wieder einen gewissen kreativen Freiraum geben, man darf einem Lächeln, das wahrscheinlich nichts anderes als wohlmeinend war, eine verschwörerische Note verleihen, schließlich darf man sich ein wenig austoben auf jener grenzenlosen Spielwiese, auf welcher sich ja auch Geschichtenerzählerinnen und Geschichtenerzähler allzu gerne bewegen, und damals, als elf oder zwölf Jahre alter Junge mit einer Schwäche für allwissende Bibliothekarinnen, fand ich es besonders imponierend, wenn Geschichtenerzählerinnen und Geschichtenerzähler Geschichten erzählten, die zwar so abenteuerlich und außergewöhnlich waren, dass sie sich niemals in meinem durch und durch normalen und abenteuerbefreiten Leben hätten ereignen können, aber dennoch nicht so abenteuerlich und außergewöhnlich, dass es vollkommen unmöglich gewesen wäre, dass sie sich in meinem Leben hätten ereignen können, ich wollte echte Menschen, die in einer echten Welt echte Dinge taten, über echte Witze lachten und sich vor echten Gefahren fürchteten, ich wollte den Geschichten glauben und mich nicht von ihnen belügen lassen, ich mochte keine götterfunkensprühenden Geschichten über Raumschiffe oder Parallelwelten oder allmächtige Kreaturen, ich mochte keine Königreiche im Himmel oder Städte unter dem Meer, ich mochte keine Superhelden, keine Männer, die unsichtbar werden konnten, keine Frauen, die sich in Vögel verwandeln konnten, ich wollte nichts lesen über irgendwelche Jungen, die auf fliegenden Glücksdrachen reiten konnten, und dass ebensolche fantastischen und vermeintlich realitätsfremden Werke häufig durchaus in der Realität verwurzelt und verankert sind, war mir damals nicht bewusst, auf mich übten diese märchenhaften und wirklichkeitsfremden Erzählungen nicht den geringsten Reiz aus, und dennoch habe ich im Verlauf meiner Kindheit wohl etwa drei oder vier Mal «Die unendliche Geschichte» von Michael Ende geschenkt bekommen, zum Geburtstag oder zu Weihnachten, von Menschen, die nicht wussten, wie ich über unendliche oder anderweitig irreale Geschichten dachte, doch Frau Elmer wusste es, sie wusste ganz genau Bescheid, was mir gefiel und was nicht, obwohl ich stark bezweifle, dass sie überhaupt meinen Namen kannte, für sie war ich wohl nur eines von unzähligen Kindern, die bei ihr Bücher ausliehen, und dennoch schien sie mich zu kennen, denn wenn sie mich auf ein Buch aufmerksam machte, war es nie eine fantastische oder unglaubliche Geschichte, und ganz bestimmt keine unendliche Geschichte, und schon allein deshalb ist es mir auch aus heutiger Sicht mehr als verständlich, dass ich damals wahrscheinlich ein kleines bisschen verliebt war in die Frau Elmer, und eines der Bücher, das mir Frau Elmer ans jugendlich schnell pochende Herz legte, war ein Roman über einen relativ schüchternen Jungen, der in einem Außenbezirk einer englischen Stadt lebte, und mir ist längst entfallen, wie der schüchterne Junge hieß oder die Stadt, mir ist auch entfallen, wie das Buch hieß oder die Autorin, der Autor, doch die Geschichte ist mir geblieben, sie handelte von diesem besagten Jungen, und dieser Junge konnte nichts wirklich gut, er war eine Null in Mathematik, er verschluckte beim Vorlesen oftmals ganze Silben und bekam Bauchweh davon, und wenn ihn seine Klassenkameraden ausnahmsweise beim Fußball mitspielen ließen, stolperte der Junge mit einer erschreckenden Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit über seine beiden linken Füße und erntete im besten Fall mitleidige Blicke, in den meisten anderen Fällen aber höhnisches Gelächter und wütend gereckte Kinderfäuste, doch neben all den Dingen, die der Junge nicht wirklich gut konnte, gab es etwas, das er wiederum ganz hervorragend beherrschte, nämlich das Zeichnen, denn das Zeichnen war seine Welt, seine Passion, und seine Eltern lobten ihn wegen seinen Zeichnungen und seine Lehrer lobten ihn wegen seinen Zeichnungen, doch er konnte mit Lob noch schlechter umgehen als mit einem Fußball, weshalb er es bevorzugte, das Zielpublikum für seine Kunstwerke auf sich selbst zu beschränken, und das Zeichnen, es war für den Jungen eine willkommene Flucht, eine Form der Heimat, aber es war eben auch eine ziemlich einsame Angelegenheit, und häufig sonderte sich der Junge ganz bewusst ab, ging in den Wald oder an die nahe Küste, und als er eines Tages ein weiteres Mal seinen Platz nahe der Küste eingenommen hatte und zeichnete, tauchte plötzlich ein Wagen auf, und weil der Junge nur ungern gesehen werden wollte, versteckte er sich schnell und beobachtete, wie zwei Männer aus dem Wagen stiegen und sich angeregt unterhielten, und einer holte eine Waffe hervor und verstaute sie wieder, dann nahmen sie zwei Taschen aus dem Wagen, öffneten sie und schauten hinein, lachten laut auf, beinahe wiehernd, bevor sie die Taschen zurück in den Kofferraum legten, wieder in den Wagen stiegen und wegfuhren, und der Junge war froh, dass er nicht gesehen worden war, und ging nach Hause, doch am nächsten Tag erfuhr er, dass in der Stadt eine Bank überfallen worden war, und natürlich wurde ihm sofort klar, dass es sich bei den beiden Männern am Meer um die Bankräuber gehandelt haben musste, und er zeichnete ihre Gesichter nach und ging zur Polizei, wo er zunächst ausgelacht wurde, bis sich ein ziemlich grummliger Polizist ihm zuwandte und die Zeichnungen sehen wollte, und natürlich war der grummlige Polizist begeistert vom Zeichentalent des Jungen und überzeugt, dass man den Bankräubern mit diesem hervorragenden Fahndungsbild auf die Schliche kommen konnte, und in der Folge entwickelte sich eine abenteuerliche Räuberjagd, bei welcher der Junge dem grummligen Polizisten immer wieder helfen konnte, und die beiden wurden ein ungleiches Team, erzählten sich bei aller Bankräubersuche aber auch vieles aus ihren Leben, persönliche Dinge, durchaus witzige, aber auch unwitzige Dinge, sie öffneten sich einander, und schließlich, natürlich, lösten sie den Fall, konnten die Räuber dingfest machen, und was mich bei der Geschichte über den schüchternen Jungen und den grummligen Polizisten so begeisterte, war der Ideenreichtum, mit welchem die Handlung vorangetrieben wurde, die Fantasie, mit welcher jede Buchseite durchtränkt zu sein schien, diese Fantasie, sie schien mir ein Schatz von unschätzbarem Wert zu sein, ein absolut unbezahlbares Gut, und noch heute bin ich begeistert, was sich mit Fantasie erreichen lässt, wenn sie in den richtigen Händen und Fingern liegt, Fantasie erschafft ganze Welten bis ins kleinste Detail, Fantasie macht Tote lebendig, Fantasie löst sämtliche Grenzen von Raum und Zeit auf, Fantasie lässt auch irgendwelche Jungen auf fliegenden Glücksdrachen reiten, doch bei aller Fantasie muss man aufpassen, dass man die Realität nie ganz aus den Augen verliert, man muss immer einen Anker in der Realität setzen, denn ohne diesen Anker treibt man ab, man verliert sich im endlosen Strudel der Vorstellungskraft, und in diesem Fall ist dieser Anker wohl Frau Elmer, denn das Buch über den zeichnenden Jungen und den grummligen Polizisten, die gemeinsam die Bankräuber fangen, es existiert nicht, hat nie existiert, ich habe es erfunden, ich habe es erfunden, weil ich eine Geschichte über Frau Elmer erzählen wollte, und nein, Frau Elmer habe ich nicht erfunden, Frau Elmer hat es wirklich gegeben, auch wenn sie ziemlich sicher nicht Frau Elmer hieß, denn so, wie Frau Elmer wohl meinen Namen nicht kannte, kenne auch ich ihren Namen nicht, zumindest heute nicht mehr, ich habe ihn längst vergessen, er ging verloren unter all den anderen Namen, die danach kamen, aber an Frau Elmer, an diese Person, diese Bibliothekarin, erinnere ich mich genau, ich erinnere mich an die Eleganz, mit der sie die Ausleihekarte in die dafür vorgesehene Lasche im Buchumschlag steckte, ich erinnere mich an die Wolljacke, die sie gerne trug, denn in der Bibliothek war es ständig kalt, sogar im Sommer, ich erinnere mich an ihr Lächeln, wenn ich ihr ein weiteres Buch entgegenhielt, das ich gerne ausleihen wollte, und ich erinnere mich an mein Erstaunen, dass Frau Elmer alle Bücher kannte, dass sie Bescheid wusste, und ich bin Frau Elmer noch heute dankbar, dass sie mich bei meinen Ausflügen in die Buchstabenwelt begleitet hat, mich unterstützt und animiert hat, dass sie mir wunderbare Bücher gezeigt hat, und irgendwann, irgendwann schreibe ich ein Buch über einen zeichnenden Jungen und einen grummligen Polizisten, und dann widme ich es Frau Elmer, in die ich damals wahrscheinlich ein kleines bisschen verliebt war, und natürlich würde sie niemals davon erfahren, denn sie heißt ja nicht Frau Elmer und wüsste nicht, dass sie gemeint ist, außerdem würde sie meinen Namen nicht erkennen und sich wohl auch nicht für ein Buch über einen zeichnenden Jungen und einen grummligen Polizisten interessieren, und vor allem dürfte es ein solches Buch in der Realität mit ziemlicher Sicherheit nie geben, denn wer würde schon ein Buch über einen zeichnenden Jungen und einen grummligen Polizisten lesen wollen, aber in meiner Fantasie, in meiner Fantasie ist es da, dieses Buch, es steht im Regal, und ich ziehe es hinaus und bringe es zum Pult der Bibliothekarin, und Frau Elmer lächelt mich an und nickt und mustert dann das Buch, das ich ihr hinhalte, und einen Moment lang wirkt sie ein wenig irritiert, weil sie das Buch nicht kennt, und dann klappt sie den Buchdeckel auf, um die Ausleihekarte aus der Lasche zu ziehen, und wahrscheinlich entdeckt sie die Widmung, sie wird stutzig, ich merke es ihrer veränderten Körperhaltung an, und dann liest Frau Elmer, dass dieses Buch Frau Elmer gewidmet ist, in die ich damals wahrscheinlich ein kleines bisschen verliebt war, und eigentlich müsste ich mich in diesem Moment ein wenig peinlich berührt fühlen, doch in meiner Fantasie bin ich es nicht, in meiner Fantasie stehe ich einfach da und lächle Frau Elmer an, denn in meiner Fantasie ist fast alles möglich.

Ein angenehm zu lesender, leicht melancholisch dahinfließender Ein-Satz-Text!
Allerdings mußte ich stutzten, als es um die bevorzugte Jugendlektüre des Ich-Erzählers ging:
„[Ich] fand ich es besonders imponierend, wenn Geschichtenerzählerinnen und Geschichtenerzähler Geschichten erzählten, die zwar so abenteuerlich und außergewöhnlich waren, dass sie sich niemals in meinem durch und durch normalen und abenteuerbefreiten Leben hätten ereignen können, aber dennoch nicht so abenteuerlich und außergewöhnlich, dass es vollkommen unmöglich gewesen wäre, dass sie sich in meinem Leben hätten ereignen können […].“
Zwischen „sich niemals […] hätten ereignen können“ und „vollkommen unmöglich […], dass sie sich in meinem Leben hätten ereignen können“ vermag ich keinen wesentlichen semantischen Unterschied zu erkennen! Die vorherige dreifache Wiederholung von „Geschichten“ ließ den Lesefluß im übrigen auch kurz ins Stocken geraten …
Aber Frau Elmer und insbesondere das frei erfundene Kinderbuch sind wiederum sehr glückliche Teile der Erzählung!
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Die von dir angemerkte Stelle ist auch mir ein wenig aufgestossen, nicht zuletzt, als ich den Text kürzlich vor Publikum las; für ein nächstes Mal werde ich wohl nach einer anderen Formulierung suchen, doch bis dahin drängt mich meine Faulheit dazu, es bei der vorliegenden Formulierung zu belassen.
Vielen Dank dir für deine Worte!
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